Den Titel seines jüngsten Buches hat Eberhard Martin Pausch, der geschätzte Kollege im Vorstand des Bundes für Freies Christentum, einem Gedicht von Rilke entlehnt (vgl. 28f). Das Buch ist erstens ein sehr persönliches Buch (Pausch meint, es sei „das persönlichste aller meiner Bücher“, Vorwort, 10), zweitens ein kritisch reflektiertes und drittens ein liberales Buch.
Erstens: Pausch beginnt mit Erinnerungen an seine frühe Kindheit, in der er bei seiner Großmutter und seiner Urgroßmutter beten lernte und durchaus zwiespältige Erfahrungen machte (17-19). Und er endet mit einem autobiografischen Nachwort und dem überaus optimistischen Ausblick: „Solange ich lebe, werde (!) ich auf den Gott vertrauen, der Revolutionen möglich macht“ (177f). Oder schließlich deutlich vorsichtiger: „Solange ich lebe, will (!) ich beten und mich meinen Gebeten anvertrauen.“ (178) Aber auch darüber hinaus ist das Buch von mancherlei persönlichen Erinnerungen geprägt (vgl. nur 22f).
Zweitens: Freilich verbinden sich die persönlichen Erinnerungen und Gedanken durchgehend mit kritischen Reflexionen, mit Verweisen auf Autoritäten in Philosophie und Theologie (vor allem Schleiermacher, Tillich und Wilfried Härle, der besonders geschätzte Lehrer Pauschs) sowie auf allerhand Literatur von Augustin über Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin und Luther bis zu Härle (vgl. auch das Literaturverzeichnis, S. 179-186). Dazu werden immer wieder einschlägige Formulierungen und Überlegungen aus der Literatur angeführt. Denn Pausch möchte rational rekonstruieren, was „Christinnen und Christen unter dem Gebet verstehen“, er möchte das Gebet vernünftig verstehen (20). Mindeststandards sind für ihn dabei „Klarheit und Deutlichkeit“, „Stimmigkeit“ sowie „erkennbare Relevanz für die menschliche Lebenswelt“ (21). Daraufhin unterscheidet Pausch z.B. zwischen „dem Akt und der Haltung des Betens“, „dem Gebetstext oder der Gebetsform“ sowie „den Gebeten selbst“ (hier wie auch im Folgenden lasse ich die bei Pausch zu findenden Kursivierungen weg, 24). Zudem liefert er eine klare Definition des Gebets, die das Gebet als „dreistellige Relation“ zwischen Mensch, Wirklichkeit und Gott sieht und wie folgt lautet: „Das Gebet ist eine symbolisierende Handlung des Menschen […] im Hinblick auf Wirkliches bzw. die Wirklichkeit im Ganzen […] und in Beziehung zu Gott als dem liebevollen Schöpfer der Wirklichkeit und des Menschen“ (45).
Drittens: Pausch sieht sich in der Tradition der Aufklärung und besonders Kants, ohne dessen moralische Engführung der Religion zu übernehmen. Aber: Wie sich die Religion „in den Grenzen der bloßen Vernunft“ (Kant) bewegen muss, so auch das Gebet (21). Nicht zuletzt von daher lehnt Pausch etwa die „klassische Trinitätslehre“ ab. Er meint: „Denn ich bete sehr wohl zu einem personal verstandenen Gott – aber genau deshalb nicht zu einem trinitarisch verstandenen Gott“ (66). Er hält zudem einen so verstandenen Gott sowohl für den christlichen Glauben wie für das Gebet für entbehrlich. Denn zum einen kommt das Beten zu einem so verstandenen Gott „in der Christenheit zwar vor, aber es ist keineswegs alternativlos“. Zum anderen entspricht es nicht der Gebetspraxis Jesu. Und schließlich hält Pausch es für „höchst zweifelhaft, ob ein trinitarischer Gott vernünftig gedacht werden kann.“ (68) So ist das Gebet nach Pausch in der liberalen Tradition zwar der Wahrhaftigkeit, der Wahrheit sowie der je eigenen Gewissheit verpflichtet, nicht aber überkommenen Dogmen oder unhintergehbaren Traditionen (vgl. 75-84). – Allerdings hält Pausch das Gebet zu Jesus für möglich, sofern und soweit damit ein Gebet zu Gott selbst gemeint ist (vgl. 71-74).
Pausch berührt in seinem Büchlein viele Themen zum Gebet, so etwa „Kant und die Problematik des Gebets in der Neuzeit“, „Elemente und Sprachformen des Gebets“, „Das Bittgebet“, „Zum Ort des Gebets im Leben der Christinnen und Christen“ oder „Zur Ethik des Gebets“ (hier übrigens auch zu „Beten und Humor“, 144f!), „Mit anderen Religionen beten“, „Gebete im Zeitalter der Digitalisierung“ – diesen Gesellschaftsbezug halte ich für wichtig, hätte mir hierzu freilich nicht zuletzt ein Kapitel etwa unter der Überschrift „Gebet im Kapitalismus“ gewünscht.
Freilich werden die Themen nur kursorisch behandelt, und so stellt sich die Frage, für wen das Buch geschrieben ist. Diejenigen, die sich bislang eher wenig bzw. kaum mit der Problematik des Gebets auseinandergesetzt haben, werden die häufigen kursorischen Bezüge auf die Philosophie- und Theologiegeschichte kaum verstehen. Die Fachleute hingegen werden eine eingehendere Erörterung und Argumentation vermissen. Diejenigen jedoch, die im Begriff stehen, sich mit der Problematik des Gebets intensiver auseinanderzusetzen, werden in dem Buch sicher mancherlei wertvolle Anregungen finden.
Bleiben zum guten Schluss noch zwei Fragen zur „Stimmigkeit“, einem der von Pausch zu Recht geltend gemachten rationalen Mindeststandards. 1. Pausch versteht Gott konsequent personal als „liebevollen Schöpfer“, an den man sich im Gebet vertrauensvoll wenden kann, und der Bitten „erhört“, wenn auch natürlich nicht immer „erfüllt“. Wie will er dieses Verständnis rechtfertigen angesichts einer zutiefst ambivalenten, so grandiosen wie grauenvollen „Schöpfung“? 2. Für Pausch gehören Gebete als „Kraftwerke und Energiespender“ offenbar zum Kern der Religionen (vgl. 171f). Wie will er diese Behauptung rechtfertigen angesichts starker Strömungen im Buddhismus und weit darüber hinaus, die die göttliche Wirklichkeit apersonal bzw. transpersonal begreifen und folglich das Gebet für unangemessen halten?
Wolfgang Pfüller