Der Verlag W. Kohlhammer hat Mitte des Jahres eine kleine Trilogie veröffentlicht, die es in sich hat: eine sorgfältig lektorierte, optisch und haptisch ansprechende Reihe, Hardcover, mit Lesebändchen und abgesetzten Zitaten. Das erleichtert die Lektüre und lädt ein, den anspruchsvollen Gedankengängen der drei Essays zu folgen. Der Herausgeber Jörg Armbruster, Journalist und u.a. langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten, hat drei Autoren gewonnen, die aus verschiedenen Perspektiven auf das schauen, was bis zum 24. Februar 2022 für die meisten Europäer undenkbar erschien: Russland überfällt die Ukraine.
Im ersten Band Logik und Schrecken des Krieges geht Jochen Hippler der Frage nach, warum es überhaupt immer wieder Kriege gibt. Pascal Beucker fragt im zweiten Band, ob es bessere Antworten auf den russischen Angriff gegeben hätte: Pazifismus – ein Irrweg?
In meinen Händen liegt der dritte Band, der 170 Seiten starke Essay Hartwig von Schuberts Den Frieden verteidigen. Der Autor, Jahrgang 1954, begann seine berufliche Laufbahn als evangelischer Gemeindepfarrer in Hamburg und beendete sie als Militärdekan (2005-2019) an der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg mit den Schwerpunkten Politische und Militärische Ethik. Im Juni 2021 wurde er von der Universität Hamburg für das Fach Systematische Theologie habilitiert (Nieder mit dem Krieg. Eine Ethik politischer Gewalt – so der Titel seiner Habilitationsschrift, 2021 in Leipzig veröffentlicht). Dr. von Schubert lehrt dort seither als Privatdozent.
Passend zum 300jährigen Geburtstag Immanuel Kants, grundiert der Autor seinen Band mit der berühmten Schrift des Philosophen Zum ewigen Frieden aus dem Jahr 1795. Diese ist für Hartwig von Schubert „der Dreh- und Angelpunkt jeder modernen politischen Philosophie“. Kants Gedanken zur friedensstiftenden Kraft des Völkerrechts haben Eingang gefunden in Verträge zur Ächtung des Krieges und nicht zuletzt in die Charta der Vereinten Nationen. Allen Verletzungen und Brüchen des Völkerrechts (das vor Russland auch von den USA fundamental missachtet wurde mit dem Irakkrieg 2003, was der Autor nicht zu erwähnen vergisst!) zum Trotz wirbt von Schubert für den Pazifismus des modernen Völkerrechts und betont: „Zur Vernunft kommen wir erst dann, wenn wir erkennen, dass wir letztlich nicht unsere Feinde, sondern den Krieg besiegen müssen“.
Der Autor weitet dabei das Bild von Krieg: Damit ist nicht nur der äußere, sondern auch der innere Krieg gemeint: „massive Ausbeutung, Unterdrückung, Einschüchterung, Terrorisierung, Verelendung, Verrohung, Versklavung und Vertreibung von Menschen durch Menschen.“ Wer glaube, dass die Sklaverei abgeschafft sei, irre leider. Weltweit seien 50 Mio. Menschen darin gefangen, mit steigender Tendenz.
Bei allem nüchternen Realismus: Hoffnung gibt dem Autor das, was Kant die „ungesellige Geselligkeit“ des Menschen nannte: „Zum Menschsein gehört der Konflikt ebenso wie die Kooperation. … Jederzeit und überall kann die Ungeselligkeit des Menschen seine Geselligkeit übertreffen, aber das muss nicht so sein.“ Mit dieser Prämisse schaut Hartwig von Schubert auf die Bindekräfte einer menschlichen, noch vorstaatlichen Gesellschaft, die sich u.a. aus den Religionen speisen wie etwa dem biblischen Tötungsverbot. Ein freiheitlicher, demokratischer Rechtsstaat baut also auf Voraussetzungen auf, die er nicht garantieren kann – sofern er nicht zum autoritären Vormund und zur Besserungsanstalt werden will.
Was also tun angesichts der Tatsache, dass die Staaten Europas hundert Jahre nach der kantischen Friedensschrift ihre Gesellschaften nicht zu einem Friedensbund zusammenführten, sondern sich gegenseitig in zwei Weltkriegen zerfleischten? Das Überleben der zivilisierten Menschheit ist heute zusätzlich bedroht durch das enorme Wohlstandsgefälle zwischen armen und reichen Gesellschaften, durch Artensterben und Klimawandel und deren Folgen wie Massenmigration. Es ist unübersehbar, „in welche dunkle Zukunft die Reise der Menschheit ginge, wenn sie auf die Stufe des Völkernaturrechts und der Staatenanarchie zurückfiele.“
Von Schubert versucht, visualisiert mit einigen Schaubildern, zu skizzieren, wie sich Rückfälle in die Barbarei zukünftig strukturell verhindern ließen, mit dem Staat als Medium, „mittels dessen die Gesellschaft ihre hart errungene Freiheit auf Dauer stellen und gegen ihre Feinde absichern kann. … Glücklich ist die Gesellschaft, die sich auf eine krisenerprobte Verfassung und auf einen gemeinsamen gesellschaftlichen Grundkonsens stützen kann.“ In einem konzentrierten philosophischen und historischen Diskurs führt uns der Autor vor Augen, welche Sicherungssysteme und Verträge, etwa nach dem Dreißigjährigen Krieg oder nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, entstanden, die darauf abzielten, die „Geselligkeit“ unserer eben auch ungeselligen Spezies Mensch zu sichern und zu fördern.
Gerade weil die Bilanz so ernüchternd ausfällt (ausgerechnet die beiden mächtigsten Vetomächte im UN-Sicherheitsrat, die USA und Russland, verletzten die Grundsätze der UN-Charta), insistiert von Schubert darauf, bestehende Verträge und Gremien zu beleben und weiterzuentwickeln. Dringend geboten sei etwa angesichts der Selbstblockade des Sicherheitsrats eine Aufwertung der UN-Vollversammlung als „Staatenkongress“. Und es gelte, die in einem langen Prozess aufgebaute europäische Struktur der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) trotz Russlands eklatanten Völkerrechtsbruch zu erhalten – mit Russland an Bord. Der Autor wirbt für das Prinzip, das einst Hannah Arendt formulierte: audiatur et altera pars – auf die andere Seite zu hören. Was nicht bedeute, vor einem Aggressor zu kapitulieren. Man dürfe der Kriegslogik der derzeitigen russischen Führung nicht folgen, sondern müsse „vor aller Welt deutlich machen, dass wir nicht Russland, sondern den Krieg bekämpfen“.
Schlussendlich versucht der Autor mit seinem abwägenden und differenzierten Diskussionsbeitrag zwischen geopolitischen Realisten, die auf Abschreckung setzen, und Idealisten, die eine internationale Friedensordnung beschwören, zu vermitteln. Realpolitisch schlägt er u.a. vor, die alljährliche Münchner Sicherheitskonferenz nach Genf zu verlegen, gleichsam auf neutrales Territorium mitten in Europa. Es werde Zeit, den Frieden auf dem Kontinent zur eigenen Sache zu machen, anstatt seine Gestaltung Regierungen in Moskau, Peking oder Washington zu überlassen.
Christoph Störmer