Das Buch des pommerschen Bischofs i.R. Hans-Jürgen Abromeit enthält Texte aus einer Zeit des Umbruchs, darunter Predigten aus den Jahren 2001-2019. Aber zusammen mit weiteren Texten aus diesen Jahren ist es weit mehr als eine Predigtsammlung. Das Buch spiegelt den Willen des Verfassers, seiner Kirche Halt und Orientierung zu geben. Das war eine breit angelegte Leitungsaufgabe, der sich der Verfasser als Einzelner und im Verein mit anderen für eine bestimmte Zeit gestellt hat. Vielleicht wird der eine oder die andere unter den Lesern sich bei der Lektüre auch immer wieder einmal fragen, ob da etwas mitschwingt von den ntl. Anforderungen an die, die in das Amt eines Bischofs gewählt werden: „Nüchtern sollen sie sein, besonnen, von würdiger Haltung“ (1. Tim. 3,1-7).
„Pommernland ist abgebrannt“ hatte ihm zu seiner Einführung im September 2001 jemand gesagt. Es sei eine Region ohne eigene Identität in randständiger Lage mit kleiner Kraft. Und er erfährt schnell, dass Pommern zu den ärmsten Regionen Deutschlands gehört. Es gibt Ortschaften, in denen die Arbeitslosigkeit bei 60% liegt. Viele Menschen, vor allem junge, verlassen die Region und suchen anderswo ihr Glück. Es schreckt den Bischof, wenn in einem Wahlkreis 35% für die NPD stimmen. Er fragt, wofür die NPD eigentlich stehe, und entdeckt: „Sie will Deutschland herauslösen aus dem Verflochtensein in globale und internationale Zusammenhänge.“ (100) – Seine Antwort: „Wir brauchen neue, ungewöhnliche Ideen, um mit vielen kleinen Aktionen und Unternehmungen Hoffnung nach Vorpommern zu bringen.“ (140)
Gemeindeglieder erzählten ihm von einer Politik der Nadelstiche und der Zurücksetzung im öffentlichen Leben. Der Kirche in Pommern ist es in der Zeit der DDR nicht gut gegangen. Vielleicht deshalb wählt Abromeit im Gottesdienst zu seiner Einführung als Text die Verheißung aus Mt. 28,16ff: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. In seiner Predigt weist er darauf hin, dass die Kirche die Anwesenheit Jesu Christi nicht herbeizwingen kann. Ihre Bedeutung und Kraft liege aber darin, dass sie sich seiner Stimme aussetzt. In den Gemeinden erzählten ihm Menschen, dass sie trotz vieler Benachteiligungen in der sozialistischen Zeit Christinnen und Christen geblieben sind und ihr Leben weiter nach Gottes Willen ausrichten wollen.
Im Gottesdienst zu seiner Verabschiedung im Jahr 2019 bezieht sich Abromeit auf die Erzählung von den Emmaus-Jüngern. Wie in dieser biblischen Perikope die Unterhaltung zwischen den Jüngern gerät auch die Predigt zu einem Gespräch über das in der zurückliegenden Zeit Erlebte. Dabei tritt zum einen die Erfahrung von Gemeinschaft hervor: „18 Jahre, viele Kilometer, immer in Gemeinschaft.“ Abromeit nennt die Namen von zahlreichen Frauen und Männern, die ihm Weggefährten waren. Zunächst in der Arbeit in Greifswald und dann auf dem Weg zur Nordkirche: Mitglieder der Kirchenleitung, der Synode, Ehrenamtliche mit hoher Kompetenz, jüngere Pastorinnen und Pastoren mit neuen Ideen, Geschwister in den Partnerkirchen. „Gerade weil viele auch vieles anders denken und glauben, bereichert sich unser gemeinsamer Weg.“ Aber, betont er, geadelt wurde diese Weggemeinschaft durch den, den wir oft nicht wahrnehmen, der aber dennoch da ist. Der Unbekannte, der die Welt nicht nur „rettet“, sondern sie in einen Ort des Lebens verwandelt. Abromeit hatte um sich Menschen, die ihm die „Rätsel der Pommerschen Kirche“ erschlossen.
Als Vikar hat Hans-Jürgen Abromeit die Möglichkeit, einen Teil der Ausbildung in Jerusalem zu verbringen. „Als ich als junger Theologe nach Jerusalem gegangen bin und dort als Vikar gearbeitet habe, da war ich innerlich aufgrund der deutschen und christlichen Schuldgeschichte ganz für Israel eingestellt.“ „Ich war zutiefst erschüttert über das, was Deutsche Juden angetan hatten.“ (139) Zu dem Erwähnenswerten aus dieser Zeit gehört eine Predigt, die Abromeit 1981 in der Evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem hielt. „Es war damals schon in verschiedener Hinsicht eine schwierige Zeit für die Menschen in der Region.“ (139)
Er nutzte diese Zeit in Jerusalem auch, um freie Tage im Sinai und am Roten Meer zu verbringen. „Dieses Schnorcheln in den Korallenriffen des Roten Meeres muss man einmal erlebt haben, um einschätzen zu können, wie schön die Schöpfung Gottes ist. Die außerhalb des Wassers mit unseren Organen nicht wahrnehmbare herrliche Unterwasserwelt der Korallenriffe ist für mich ein Bild geworden. Ein Bild für die über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit der Wirklichkeit Gottes, die aber für unsere natürlichen Augen unsichtbar ist.“ (140f)
Auf den frühen Aufenthalt im Heiligen Land dürfte auch das Bekanntwerden mit dem Jerusalemsverein zurückgehen. Abromeit nennt die Gründerväter Friedrich Adolf Strauß und Karl Krafft, die 1845 Jerusalem besuchten, und stellt heraus, wie sehr sie das Schicksal der im Lande lebenden Menschen berührte: „Weil ihnen Gott nahegekommen ist, trifft sie die Not der Menschen Palästinas.“ Als er selbst später Vorsitzender dieses Zusammenschlusses geworden ist, sagt er über die Aufgaben: „Als Jerusalemsverein sind wir unseren christlichen Geschwistern im Orient verbunden. … Der Staat stranguliert mit seiner Armee und seinen Siedlungen in der Westbank die Glieder unserer Partnergemeinden wie alle Palästinenser und versucht, den Druck auf sie zu erhöhen, damit sie das Land verlassen. Das Leben unter Besatzung … ist unerträglich.“ (122f).
Abromeit mahnt an verschiedenen Stellen an, die Vielschichtigkeit des Konflikts in Israel/Palästina wahrzunehmen und fordert, dass beide Seiten das Ihre zur Abwicklung von Gewalt tun. „Jedes Töten aus politischen Motiven ist Öl in das Feuer dieses Konfliktes. Niemand, der Gott ernst nimmt, kann Selbstmordattentate oder die gezielte Liquidierung von politischen Gegnern legitimieren.“ Er spricht auch von einem eigenen Lernprozess: „Anfangs habe ich mich geweigert, die Berichte von der täglichen Schikane, von den Häusersprengungen als kollektive Strafmaßnahme, von der sechsmonatigen Administrativhaft, die nur auf Verdacht ohne Erklärung der Vorfälle verhängt werden durfte, als bare Münze zu nehmen.“ (88) Aber er sieht dann: „In Gaza begegne ich Menschen, denen das Nötigste zum Leben, zur Stillung ihrer elementaren Bedürfnisse fehlt. In Ashkalon erlebe ich eine gepflegte Küstenstadt mit den schönsten touristischen Einrichtungen und dem ganzen Luxus, der dazugehört.“ (89) Im Blick auf die öffentliche Meinung, Presse und Politik in Deutschland spricht er von „Wahrnehmungseinschränkungen“.
Dass die „Jüdische Allgemeine“ ihm im August 2019 kurze Zeit vor seinem Ausscheiden aus dem Amt als Bischof „irritierende Äußerungen zur Legitimität des jüdischen Staates“ vorwarf und ihn einen „Bischof gegen Israel“ nannte, macht Abromeit nicht zum Thema. Er geht auch nicht direkt auf diejenigen in Gesellschaft und Kirche ein, die diesen fragwürdigen Vorwurf verstärkten. Aber es ist deutlich, dass auch er hier die Auseinandersetzungen kennenlernte, die für einen Bischof nicht ausbleiben. Was die Israel-Problematik angeht, vertritt er selbst eine profilierte, mit dem Judentum verbundene Theologie, die die Palästinenserfrage ernst nimmt. Das ist eine in Kirche und Theologie immer noch umstrittene Position. Auf dieser Linie liegt auch die Aufnahme der Dialogpredigt, die der Bischof zusammen mit dem Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern, William Wolff, gehalten hat, mit dem er in einer freundschaftlichen Beziehung stand. Im Blick auf die Anfeindungen von 2019 haben ihm die Theologieprofessoren Johannes Wallmann und Johannes Fischer mit starken Argumenten den Rücken gestärkt. In der Rückschau kann es an einer Stelle des Buches heißen: „Ich war nie einsam, auch wenn ich mich manchmal so fühlte.“
Der Band enthält auch zwei Predigten zur Nahost-Thematik, die Hans-Jürgen Abromeit bei den Jahresfesten des Jerusalemsvereins im Berliner Dom gehalten hat. Als es dort einen Predigerwechsel gab, führten diese Predigten zusammen mit einer Predigt des palästinensischen Theologen Dr. Mitri Raheb dazu, dass der Jerusalemsverein seine Jahresfeste nicht mehr im Dom halten durfte, obwohl er darin vor 170 Jahren gegründet worden war. Im Jahr 2015 wird der Jahresfestgottesdienst dann in der St. Marien-Kirche gefeiert.
Ein markanter Satz aus dem Vorwort: „Ich entdeckte in der pommerschen Geschichte geistige und kulturelle Größen, die mir halfen, Orientierung zu finden“. Neben dem Reformator Pommerns Johannes Bugenhagen nennt er immer wieder Caspar David Friedrich und Dietrich Bonhoeffer. Hinweise auf diese beiden begegnen auf vielen Seiten dieses Buches: „Greifswald war die Stadt Caspar David Friedrichs. Es war seine Stadt und seine Heimat.“ (80) Über diese geradezu überschwänglich formulierten Sätze hinaus ist es der religiöse und kirchliche Friedrich, der vor allem betont wird. Das Bild „Mönch am Meer“ schmückt nicht nur den Bucheinband, sondern ist auch Gegenstand mehrerer Predigten. Weitere Bilder wie „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ und „Kreidefelsen auf Rügen“ sind in dem Band abgebildet. Das gibt es so sonst in Predigtbänden selten. Die Druckqualität ist allerdings bei einigen der abgedruckten Werke verbesserungswürdig. Der Band enthält als letzten Beitrag einen gemeinsam mit Birte Frensen verfassten Aufsatz zum Thema: Spuren der lutherischen Reformation im Werk Caspar David Friedrichs. In gewisser Weise kann das Buch deshalb als ein Beitrag zu dem Jubiläumsjahr 2024 gelesen werden, in dem sich der Geburtstag Friedrichs zum 250. Mal jährte.
Hervorhebenswert ist eine Andacht, die Abromeit bei der Kirchenkonferenz der EKD im Jahr 2008 hielt. In dieser wies er auf ein besonderes Bild von Caspar David Friedrich hin. Die 1817 erstellte Skizze zeigt die Jacobikirche in Greifswald als Ruine. Diese Kirche ist nie – und das wusste Friedrich als Sohn dieser Stadt genau – eine Ruine gewesen. Er behandelt den ihm seit Kindertagen vertrauten Kirchenbau aber in dichterischer Freiheit und macht ihn zu einer Metapher, einem Sinnbild für die Kirche seiner Zeit. Das Wesentliche sieht er dabei nicht in der äußeren Prachtentfaltung des Kirchenraums, sondern in dem, für das die „Kirche als steinerne Hülle“ steht. Die imaginierte Ruine gibt den Blick frei für das Wesentliche. Darauf weisen auch die beiden kleinen Personen links im Kirchenschiff hin, die auf den Kruzifixus blicken. Den Leitsatz des Malers, nicht nur zu malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht, will Abromeit für sich übernehmen. In Abwandlung eines Mottos von Caspar David Friedrich formuliert er: „Wer Kirche leiten will, lasse sein Handeln nicht bestimmen von der Wirklichkeit, die er vor sich sieht, sondern von der Wirklichkeit, die er in sich sieht.“
Über Dietrich Bonhoeffer hatte Hans-Jürgen Abromeit bereits im Zusammenhang seiner Dissertation intensiv gearbeitet. Als Bischof stellt er dann in einer Predigt heraus: „In Pommern hat Dietrich Bonhoeffer das Buch erarbeitet, das ihn zu seinen Lebzeiten bekannt gemacht hat und das für ihn das vielleicht typischte Buch gewesen ist, die ‚Nachfolge‘.“ Bonhoeffers Zuhörer waren die illegalen Vikare der Bekennenden Kirche, die alle Brücken zu den deutsch-christlich bestimmten Landeskirchen hinter sich abgebrochen hatten und nun bei Bonhoeffer eine Ausbildung auf der Grundlage der Barmer Theologischen Erklärung erwarteten.“ (72) Abromeit hebt hervor, was Bonhoeffer unter Nachfolge versteht, nämlich: „nichts anderes, als die Bindung an Jesus Christus allein, d. h. gerade die vollkommene Durchbrechung jeder Programmatik, jeder Idealität, jeder Gesetzlichkeit … Der Ruf in die Nachfolge ist also Bindung an die Person Jesu Christi allein“ (72). Von Bonhoeffer hat Abromeit gelernt, dass Christsein und die Strukturen dieser Welt einander entgegenstehen. Wer aufrecht Christsein leben möchte, kann kein Schmieröl im Getriebe des Lebens sein, sondern eher Sand in der Gesellschaft.
Dass sich Hans-Jürgen Abromeit mit diesen Meditationen aber nicht von der konkret empirischen Wahrnehmung der pommerschen Kirche verabschieden wollte, zeigt der im Vorwort gegebene Hinweis auf die Studie Vielleicht schaffen wir die Trendumkehr. Eine Studie zu Wachsen und Schrumpfen von Kirchengemeinden im Pommerschen Evangelischen Kirchenkreis. Zu dieser hat der Bischof auch im Ruhestand 2022 einen ergänzenden Kommentar geschrieben.
Dieter Becker