Der Untertitel dieser Vorträge und Aufsätze des evangelischen Theologen, an der Universität Frankfurt am Main lehrenden Neutestamentlers und Vordenkers eines liberalen Protestantismus lautet: „Von Wilhelm Bousset über Albert Schweitzer, Rudolf Bultmann, Karl Jaspers und Ulrich Neuenschwander bis zu Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt“. Gesammelt sind 15 Arbeiten, von denen vier bisher nicht veröffentlicht gewesen sind. Der erste, im selben Verlag 2017 mit demselben Obertitel erschienene Sammelband trug den Untertitel „Von Kant über Strauß, Schweitzer und Bultmann bis zur Gegenwart“ (Besprechung dazu in: DPfBl 7/2018, 415-417).
Wieder erweist sich Zager als ein ungemein verständlich, griffig und anschaulich schreibender Autor. Seine Gründlichkeit hemmt nirgends den Lesefluss. In die Arbeit an den Quellen sind Briefe als Fundgruben für theologische Fragen und Erkenntnisse mit einbezogen (etwa 171-173. 195ff). So werden aus einem Brief Bultmanns von 1922 an Hermann Gunkel 76 in der Sicht Bultmanns mutmaßlich echte Jesus-Worte aufgeführt (149-152).
Wie im ersten Band, so folgen auch hier auf die geschichtlichen (und zeitgeschichtlichen) Aufsätze noch vier Aufsätze, in denen Zager besonders seine eigene Sicht theologischer und religionsphilosophischer Grund- und Zeitfragen entfaltet (Bibelverständnis; neuer Atheismus; Willensfreiheit; christliche Glaubensvorbilder), wie immer bei Zager auch hier mit historischer Quellenarbeit unterfüttert. Zu den im Untertitel genannten Persönlichkeiten eines „liberalen Protestantismus“ passt der frühere Bundespräsident von Weizsäcker mit seinem Eintreten für Toleranz, Menschenwürde, Demokratie und Weltethos (271ff. 281ff. 286f) und der frühere Bundeskanzler Schmidt als ein bei allem Bekenntnis zu „Gott als dem Herrn alles Geschehens“ doch hinsichtlich der Theodizee-Frage und bezüglich der kirchlich-dogmatischen Tradition vernunftbetonter Skeptiker (311f).
Merkmale eines „liberalen Protestantismus“ oder (da dieser nicht konfessionell zu beschränken ist) freien, freisinnigen Christentums sind für Zager erstens die historische Kritik an den eigenen Glaubensquellen, und damit auch die religiöse und kirchliche Selbstkritik. Da sind die Neutestamentler Bousset (15-43) und Schweitzer (45-105; dieser hier allerdings mit Themen zur Tierethik und zur Bach-Forschung) ebenso zu nennen wie der Jahrhunderttheologe Bultmann, auch wenn dieser vorübergehend Weggenosse von Karl Barth gewesen ist und wenn ihm wegen seines Christusbezugs vom Philosophen Jaspers „Orthodoxie“ vorgeworfen worden ist (dazu Näheres im ersten Band). Zweitens gehört zu einem liberalen Protestantismus die Wahrhaftigkeit (156. 173), die „Leidenschaft für die Wahrheit“, wobei Wahrheit und Liebe zusammengehen müssen. Das wird an dem Schweizer Theologen Neuenschwander exemplifiziert (253-259). Da ist natürlich immer die Vereinbarkeit von Vernunft und Glaube zentral (etwa 174). Drittens ist die Toleranz unverzichtbar, und damit der Verzicht auf die Meinung, man habe die Wahrheit für sich und die eigene Glaubensweise gepachtet (225. 251. 367f). Auch ein liberales Christentum, das keinen Totalitäts- oder Exklusivitätsanspruch für die eigene Glaubensüberlieferung behauptet, erhebt aber doch für die Botschaft von der freien Gnade Gottes in Jesus Christus einen Wahrheitsanspruch (182. 257), und zwar unter der Voraussetzung, dass das göttliche Geheimnis, dem wir uns nur annähern können, immer größer ist als unser Begreifen (255). Zu den Merkmalen eines „liberalen Protestantismus“ gehört viertens das „undogmatische Christentum“. Es erscheint in dem Band als Untertitel des Aufsatzes zum „neuen Atheismus“ (343-368). Dazu eine Anmerkung des Rezensenten, sicher im Sinn des Autors: Gemeint ist mit „undogmatisch“ dogmenkritisch, und das bedeutet keinen Verzicht auf „Dogmen“ im Sinn von Glaubensgrundsätzen, wie „bibelkritisch“ keinen Verzicht auf die Bibel bedeutet. Nur sind die klassischen christlichen Dogmen nicht wörtlich (literalistisch) zu verstehen, sondern sinngemäß, und das heißt symbolisch-gleichnishaft, wie das von aller konkreten religiösen Sprache gilt.
Den Hauptteil des Bandes nimmt die Beschäftigung mit Bultmann ein. Das ist höchste Zeit, denn der neben Barth und Paul Tillich wohl bedeutendste protestantische Theologe des 20. Jh. scheint manchmal schon fast vergessen zu sein, oder seine Einsichten werden bei kritischen Theologen schlicht für selbstverständlich genommen und werden damit nicht weiter erörtert.
Bei aller Konstanz in der historischen Bibelkritik, gibt es bei Bultmann doch auch Entwicklungen. Erstens hat Bultmann, entgegen einigen radikalen Schülern wie Herbert Braun und Manfred Mezger, immer an der „Transzendenz“ Gottes festgehalten und diese nicht in die „Immanenz“ aufgelöst. Der eigentliche, gravierende Atheismus besteht nach Bultmann im „einfachen Ignorieren der Frage nach einer transzendenten Wirklichkeit“ (218). Doch betont Bultmann zunehmend die „Transzendenz in der Immanenz“ (203-223), also eine Entwicklung von „Gott jenseits der Welt zum Gott mitten in der Welt“ (168. 193-223). Zweitens öffnet sich Bultmann, bei aller Zentriertheit auf das Wort Gottes in Bibel und Verkündigung, schließlich einem Universalismus des Sich-Offenbarens Gottes (206-208. 220f). Eine kleine Kritik an Bultmann nimmt Zager hinsichtlich der Theodizeefrage vor: Jahrzehntelang, aber immerhin nicht mehr in seiner Spätzeit, habe Bultmann Gottes Allmacht als Allwirksamkeit verstanden und damit auch das Dunkle und Böse als in Gottes Tiefen ruhend verstanden, statt es einfach in der „Abgründigkeit menschlicher Bosheit und Brutalität“ verankert zu sehen (167f).
Zwischen Jaspers und dem liberalen Protestantismus findet Zager keinen wesentlichen Dissens (225-252), abgesehen von der mangelnden Kirchlichkeit von Jaspers und dem weit intensiveren Bezug freier Christen auf Jesus (der Disput zwischen Jaspers und Bultmann um die „Entmythologisierung“ wird im ersten Band behandelt). Zager hält Jaspers zugute, dass er in seinem Verständnis des historischen Jesus weitgehend mit der neutestamentlichen Jesus-Forschung übereinstimmt (237f).
Jaspers lehnt die kirchliche „Christusspekulation“ ab, nämlich dass „Gott in Jesus Mensch geworden“ ist (232. 251), und damit die kirchliche Theorie von der „Menschwerdung Gottes“ (230-236, vor allem 232f. 252) bzw. den „Glauben an den Gottmenschen Christus“ (233). Das dürfte aber doch eine Verkürzung dessen sein, was im liberalen Protestantismus als „universaler Logos“ oder „Prinzip der göttlichen Selbstmanifestation“ (Tillich), als „Geist Jesu“ (Schweitzer), als „Christusgedanke“ (Martin Werner) oder „Christusbegriff“ (Neuenschwander) umschrieben wird und mit dem vollen Menschsein Jesu im Sinn von Mk. 10,18 (233. 251) kompatibel ist. Unter der „zweiten Person der Trinität“ ist im liberalen Protestantismus nicht der Mensch Jesus und auch nicht der „Gottmensch Christus“ zu verstehen, sondern im Sinn des Johannesprologs das ewige göttliche Wort, das dann freilich in maßgebender, wenn auch nicht exklusiver Weise in Jesus Mensch geworden ist.
Andreas Rössler