Ulfried Weißer, Dipl.-Volkswirt, entdeckte auf einem Flohmarkt in Cuxhaven zwei Bände des Hannoverschen Sonntagsblattes von 1915 und 1916. Das Buch bietet eine Auswahl der Texte über und aus dem Krieg, Gedichte, Essays, wie damals üblich oft als Erzählung, ein wenig wie Hebels „Kalendergeschichten“. Der Kaiser, betend am Bett eines sterbenden Soldaten – Kitsch, wie er J.P. Hebel fremd war.

Heutige Leserinnen und Leser werden die Texte gruselig finden. Grund des Gruselns ist letztlich die Selbstverständlichkeit, mit der Krieg als Teil der Menschheitsgeschichte gesehen und deswegen im kirchlichen Umfeld gedeutet und mit Gott in Verbindung gebracht wird wie andere geschichtliche Ereignisse, auch in der Bibel.

Die hier dokumentierten Texte finden den tieferen Sinn des Krieges etwa darin, dass er „unser Volk bessert“, freuen sich, dass er noch rechtzeitig begonnen habe, ehe die völlige Verweichlichung der Menschen geschehen sei, finden seinen Sinn aber auch in uns naheliegenderen Hoffnungen: Die Unterschiede von Völkern und Rassen würden künftig an Bedeutung verlieren. Man wirft Russland die Judenpogrome vor und hofft auf andere Zeiten und ist auf dem anderen Auge blind: Schon 1916 fand die „Judenzählung“ im Deutschen Reich statt, die dem – antisemitisch grundierten – Verdacht wehren sollte, jüdische Männer könnten sich dem Kriegsdienst verweigert haben. Man ersehnt eine Erneuerung von Kirche und Glauben, eine neue „Hinwendung zur Gottesfurcht“, die als gute Frucht des Sieges angesehen wird. An welche Leserschaft sich die Artikel wenden, wird deutlich, wenn nach der „Pflichttreue und Opferwilligkeit“ der „Dienerschaft“ gefragt wird. Letztlich sind all die Texte weder für noch von Soldaten im Krieg geschrieben für eine Gesellschaft in der Heimat, die Teuerung und Todesnachrichten erlebt und mit Meldungen über Siege oder Fortschritte versorgt wird; der festgefahrene Stellungskrieg kommt nur in der Weise vor, dass man von Fortschritten an der Ostfront redet – im Sonntagsblatt ebenso wie in der Gesellschaft.

Theologinnen und Theologen werden sich am strengen (und in der Strenge lieben) Gott stören, die Mehrheit der Leserinnen und Leser an den „höheren Zielen“, die alle Opfer rechtfertigen. Krieg ist Schickung Gottes, nicht Ergebnis von Politik und gescheiterter Diplomatie oder von Taten und Worten von Menschen.

Weißer gibt seine Deutung in der Einleitung und lässt die Texte selbst unkommentiert. Wie weit man das Sonntagsblatt„als … quasi-amtliche[s] Mitteilungsblatt der Evangelischen Landeskirche“, die „dem … mörderischen Geschehen des Krieges einen Sinn unterlegt“ (10), bezeichnen kann, wäre zu fragen. Auch, wenn Kirchenpresse sich immer wieder schwertat (und manchmal noch heute tut), sich als eigenständiges journalistisches Organ zu behaupten, war sie dieses nach ihrer Entstehung im 19. Jh. zunehmend mehr geworden. Auch ist unklar, welche Texte sich Einsendungen der Leserinnen und Leser verdanken und welche redaktionell sind – da wäre noch Forschungsbedarf. Dankenswerterweise hat der Verfasser die Bände im herausgebenden Verlag deponiert, wo sie auch für solche Untersuchungen zur Verfügung stehen.

Die Lektüre ist schwer erträglich, angesichts der Kriege unserer Tage aber sind mir unerwartete Fragen durch den Kopf gegangen: Ob ein „sinnlos“ genannter Krieg – wie er in unseren Friedensdenkschriften aufscheint – für dessen Kombattanten und Opfer leichter zu ertragen ist als ein irgendwie gedeuteter (es gibt ja nicht nur christliche Deutungen)? Als ein nur im äußersten Notfall nötiges Übel und Niederlage der Diplomatie oder Ergebnis des Übermutes sich stark Fühlender ist er die unmögliche Möglichkeit. Das mag sich moralischer lesen, bedeutet für die in den Krieg Verwickelten zugleich aber auch, an etwas Sinnlosem beteiligt zu sein und das eigene Leben riskieren zu müssen für Machtspiele. Zugleich wird es schwer, die Verteidigung der Schwachen gegen den Starken angemessen zu würdigen, was am Ende dem Starken hilft – moralischer als Rechtfertigung des Krieges? Kann es Momente geben, in denen Krieg die einzige Lösung ist, um Unheil zu verhindern?

Ob wir Menschen also einen Dienst tun, wenn wir Gott aus all dem heraushalten wollen, wie in der Pandemie, die mit Gott nichts zu tun habe (wie Kirchenleitende sicher wussten) – nicht wenige Menschen haben sich auf die Suche nach anderen Schuldigen gemacht und damit anderes Unheil erzeugt. Nein, ich weiß natürlich auch nicht, wo Gott wie am Werk ist – aber haben wir uns aus der Frage hier zu schnell davongemacht, weil wir Krieg ohnehin für unmöglich halten wollen?! Bequem sind weder das Buch noch solche Fragen, überholt sein Ton, aber unbeantwortet die Fragen, die es aufwirft – es lohnt sich, das Buch zu lesen.

Martin Ost