Sich mit Marxismus zu beschäftigen, scheint out zu sein. Umso erfreulicher ist es, dass das vorliegende Buch „eine Übersicht über theologiekritische Argumente marxistischer Autoren“ (7) aufstellt und so „Anstöße zur weltanschaulichen Selbstreflexion“ (7) christlicher Lebenspraxis liefern will. Edwin Stößinger setzt seine Analyse bei Marx und Engels an und stellt bei ihnen fest: „Christliche Dogmen werden generell als unvernünftig abgeurteilt.“ (57) Theologie sei für beide Denker etwa Negatives, von dem sich die Wissenschaft zu befreien habe. Der Verfasser hebt dabei im Hinblick auf Marx folgenden Gedankengang hervor: „Das Glück sei im philosophischen Bewusstsein erreichbar, wenn es von der Furcht vor Gott befreit sei.“ (59) Marx’ harte Abgrenzung wird dabei ideenphilosophisch dargestellt.
Für die heutige christliche Praxis wäre an dieser Stelle gewinnbringend gewesen, Marx stärker zu kontextualisieren, seine Zugänge zur Kirche in den damaligen Zusammenhang zu stellen und so Theologie- und Religionskritik situativ einzuordnen. Darin könnten Marx’ schroffe Kritikpunkte für die heutige Theologie bleibend bedeutsam sein, so etwa in der Feststellung, dass sich die damalige Kirche immer stärker von den Arbeiter*innen entfremdete und Emanzipationsprozesse von Marginalisierten (etwa in Form der preußischen Staatskirche) verhinderte – Zusammenhänge, die auf Marx’ Wahrnehmungen von Theologie zurückwirkten. Solche Kontextualisierungen finden im vorliegenden Buch zu wenig statt. Weiterhin weist Marx durchaus einen konstruktiven (ja theologischen) Umgang mit der Bibel auf (vgl. Füssel, Marx und die Bibel, Luzern 2021), was der Verfasser jedoch kaum würdigt.
Im Hinblick auf Lenins Sichtweise wird dargestellt, dass jegliche Idee von Gott „soziale Gefühle abgestumpft und eingeschläfert“ habe (66). Religiöse Bezüge stehen dem Klassenkampf entgegen (so auch Stalin, vgl. 71). Theologie sei keine Wissenschaft (68) – eine Meinung mit der sich auch Gramsci anhand von Enzykliken und Denkschriften auseinandergesetzt habe (77) und zu einem abwertenden Urteil gegenüber theologischem Denken gekommen sei. Laut Stößinger kritisiere, dieser Richtung entsprechend, Lukacs die Lehre einer doppelten Wahrheit, die in der Theologie anzutreffen sei (86) – Glaubens- und Philosophiewahrheit seien für die Theologie zwei verschiedene Ebenen. Dies ist ein Kritikpunkt, den der Verfasser bei vielen Vertreter*innen des Marxismus feststellt und der im Buch immer wieder zur Sprache kommt.
Stößinger betont weiterhin, dass hinsichtlich der Akademie der Wissenschaften der UdSSR die „Theologie als ein Produkt priesterlichen Systematisierens aufgefasst“ werde (89). Theologie habe stets „den reaktionären Herrschern gedient“ (93). Sie behindere Emanzipation. Ebenso wird dargestellt, wie sich die Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“ verstärkt mit theologischen Schriften auseinandergesetzt habe (und so auch etwa Hermann Ley). Die Analysen haben sich demnach mit der Zeit im Marxismus immer stärker ausdifferenziert (135), wobei grundlegende Kritikpunkte (etwa der Aspekt der doppelten Wahrheit) geblieben seien.
Insgesamt fällt auf, dass der Verfasser zwei Blöcke konstruiert (Marxismus vs. Theologie), die sich abgrenzend gegenüberstehen – dass es jedoch zahlreiche Interdependenzen und Grautöne gibt, kommt wenig zur Sprache. Methodische Ansätze, die nicht nur die Schriften ideengeschichtlich analysieren, sondern den darin eingebetteten Diskurs untersuchen, hätten den Vorteil gehabt, die Perspektive zu vergrößern, d.h., in welchem kontextuellen Machtgeflecht marxistische Theologiekritik geäußert wurde und welche bleibende Relevanz sie für heutige christliche Lebenspraxis hat – kurz gefragt: Von welchen Aspekten theologischer Kritik im Marxismus kann christlicher Glaube lernen? Das vorliegende Buch eröffnet hierfür jedoch zu wenig eine Perspektive, wobei es doch selbst eine weltanschauliche Selbstreflexion (7) eröffnen möchte. Und schließlich: Die Wahl der analysierten Autor*innen scheint keine Begründung zu haben. Abseits dieser Kritikpunkte handelt es sich um ein Buch, das wichtige Auseinandersetzungen analysiert, die auch heute in der kirchlichen Praxis mit kirchlich distanzierten Menschen, insbesondere im mehrheitlich transgenerationalen konfessionslosen Ostdeutschland, eine bleibende Bedeutung haben und mit denen Kommunikationsprozesse des Evangeliums Profil gewinnen können.
Tobias Foß