Stefan Seidel erinnert Christinnen und Christen in seinem neuen Buch an das Programm aktiver Gewaltlosigkeit von Nachfolge und Bergpredigt: „Christen sollen nicht eine Botschaft haben, sondern eine Botschaft sein.“ Dabei ist der Essay des Theologen, Journalisten und studierten Psychologen dicht, wortstark und pointiert. Zuerst analysiert er scharf und kritisch den status quo unserer zeitgenössischen Diskurse. Seidel greift dafür den Begriff der „Zeitenwende“ auf. Darin entwickelt sich eine apokalyptisch anmutende Kriegslogik, die ein alternativloses „Entweder-Oder“ beschwört. Präsent und unüberhörbar laut sind die Gespräche, nicht über das Ob einer kriegerischen Handlung, sondern über das Wie.
Seidel unterbreitet den Vorschlag einer Umdeutung. Wende ja, aber wohin? Eine sich zuspitzende Militarisierung des Denkens und Handelns lässt andere Wege zwangsläufig aus dem Blick geraten. Dabei sind wir in besonderer Weise angewiesen auf nicht-militärische Lösungswege, denn der Preis der Militarisierung ist zu hoch. Kriegslogik sei deshalb so verhängnisvoll, weil sie nur Mittel und Wege kennt, die in den Krieg hineinführen, nicht aber aus ihm heraus (Carl von Clausewitz). Wird also einmal das Feld der entfesselten Gewalt betreten, werden Zerstörungsausmaße unkontrollierbar und münden immer auch in Selbstzerstörungen. Seidel bringt es wie folgt auf den Punkt: „Eskalation und grenzenlose Destruktion sind nicht versehentliche Ausrutscher des Krieges, sondern sein Wesen.“
Es folgen nach der Diagnose Wegweiser auf Auswege hin, wobei Seidel sich nicht in das Land der Träumereien verirrt. Sondern er präsentiert eine Palette von Erkenntnissen der jüngeren Geschichte – Cynthia Fleury, Hannah Arendt, Pankaj Mishra (um einige wenige Namen zu nennen) – und bleibt situationsbezogen, spielt gelebte Beispiele wie die friedliche Revolution 1989 in der DDR ein, als Fundamente seiner Konzeption. Ein hochaktuelles und ergreifendes Beispiel ist die Initiative „Parents Circle“, ein Zusammenschluss palästinensischer und jüdischer Eltern, die Raum schaffen, gemeinsam um ihre verstorbenen Kinder zu trauern, mit dem Ziel tödliche Feindbilder abzubauen und Versöhnung zu ermöglichen.
Das Mittel gegen Krieg und Gewalt ist Beziehung. Diese lehrt, Unrecht deutlich aussprechen und den unmittelbaren Reflex des totalen Gegenschlags kategorial abzulehnen. Wie kann ich meinem „Gegner“ und mir helfen, aus der Verstrickung von Gewalt herauszufinden? Dabei werden konkrete Menschen auf der „anderen“ Seite sichtbar und Dämonisierungen zunehmend unmöglich.
Seidel wird auch ehrlich: Werkzeuge und Konfliktlösungsstrategien aus der psychologischen Friedensforschung bedürfen eines Wagnisses und langen Atems. Die Frage von Krieg und Frieden wird zu allererst eine Frage der inneren Haltung, der mentalen Ausrichtung des Geistes. Es gilt selbst den „Boden des Bösen“ (Pinchas Lapide) nicht zu betreten, sondern zu überwinden. Durch die Kultivierung von Skrupeln kann eine „Desidentifikation“ (Judith Butler)mit der Gewalt stattfinden.
Der Ansatz, gezielt aus der „Gewalt-Gegengewalt-Spirale“ auszusteigen, ist psychologisch ein wichtiger Schlüssel in Konfliktsituationen, der nach Seidel in der Politik fruchtbar werden muss. Womit er für die Alltags- und Politiktauglichkeit der Bergpredigt plädiert, insbesondere der Feindesliebe. Besonders der Kritik am Zeitgeist aus einer spezifisch christlichen Sicht kommt hier eine Schlüsselrolle zu, denn vorausgesetzt ist die eschatologische Einsicht: „Erst die Herrschaft Gottes wird eine wahrhaft menschliche Gesellschaft begründen“ (Wolfhart Pannenberg). Das Ziel einer jeden Politik soll es sein, Frieden und Gerechtigkeit zu verwirklichen, aber Menschen verkehren ihre hehren Ziele ins Gegenteil. Das Prinzip Gottes wirkt jedoch als Gegenprinzip schon jetzt und wird in der Bergpredigt zum aktiven Anspruch, „Frieden zu machen“. Diese Einsicht befreit zum Mitwirken am Reich Gottes, Gewalt zu misstrauen und Gewaltspiralen zu unterbrechen. Es ist eine innere Haltung, die polarisiertes Denken aufbricht. Es entlehnt sich der Titel des Werkes deshalb von dem bereits erwähnten jüdischen Theologen Pinchas Lapide, der mit dem Begriff „Entfeindungsliebe“ Jesu Programm der Bergpredigt beschrieb. Dabei zielt es explizit darauf ab, die Feindschaft und eben nicht den Feind zu überwinden: Ich will nicht deine totale Vernichtung.
Es sind die unterschiedlichsten Konzepte, die gut eingeführt werden und Lust zum Nachforschen wachsen lassen. Zugleich macht das Essay Mut, sich gehalten zu fühlen durch die eröffnete Gemeinschaft Friedensuchender auf allen Seiten. Programmatisch beginnt Seidel das Buch mit den Worten Frantz Fanons: „Auf beiden Seiten sind Menschen, die suchen.“ Zuversicht in den Anderen wächst im eigenen Denken, das sich nicht leiten lässt von Angst und Misstrauen.
Anna-Katharina Zinke