Abgesehen von ausgesprochenen Liedermachern wie Manfred Siebald kommt es nicht häufig vor, dass ein Autor Lieder veröffentlicht, deren Texte und Melodien aus einer Feder stammen. Werner Thiedes Glaubenslieder sind so ein seltener Glücksfall.

Der Pfarrer i.R. der ELKB, außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist, legt hier seine Sammlung von 80 Liedern aus den vergangenen 50 Jahren vor. Angeordnet sind sie nach Kategorien aus dem Gesangbuch, aber durchaus mit eigenem Akzent (Lob und Dank / Vertrauen und Glaubensmut / Gebet und Klage / Tag und Nacht / Mission und Auftrag / Tod und Hoffnung / Glaubensfeste und Feiern, in dieser letzten Kategorie je ein Lied zu Weihnachten, Ostern, Bußfeier/Beichte und Taufe).

Vorbilder sind unter anderem die Psalmen in ihrer Sprache als Gebete, als Aufrufe zum Loben, aber auch als Klage. Thiedes Wortwahl ist im besten Sinne eigen im Gegensatz zur saloppen Liedproduktion unserer Zeit – nichts zum leichten Absingen, da man sich in die Texte erst hineinfinden muss (Kostproben: Nr. 9 „Lass von keinen Schicksalshieben irritiert sein meinen Geist, vielmehr allezeit dich lieben, der du Ewigkeit verheißt.“ Nr. 30: „Sag Ja zu deinem mangelhaften Heute“). Poetisch gelingen ihm viele Wendungen, die haften bleiben (Nr. 33: „Christus ist mein Leben! Er hat sich gegeben, mich zu retten aus den Ketten der Vergänglichkeit.“ Nr. 41: „Geduld ist die Schwester der Sehnsucht, die Tochter des Trauens auf Gott.“).

Thiedes Lieder sind vom Text her schon vielfältig. Er schafft Lieder, die sich gut einprägen, weil er die einzelnen Strophen unter ein Thema stellt (z.B. Strophenanfänge in Nr. 40: „Singt das Lied der Ewigkeit … / Hört das Wort der Ewigkeit … / Lebt im Geist der Ewigkeit … / Geht den Weg der Ewigkeit …“; Ähnliches gilt für Nr. 6 mit dem Stichwort „Suche“ oder Nr. 22 mit dem anhebenden „Jesus, dir gehören meine Lieder“). Aber er schreibt Lieder auch eng an biblischen Texten (Nr. 41 in Anlehnung an Röm. 5 oder Nr. 45 in Anlehnung an Röm. 8, 31ff). Dort gewinnt der Text an Dominanz. Es geht aber auch umgekehrt: Thiede komponiert ja alle seine Lieder selbst – und auch da arbeitet er stilistisch vielfältig. Neben Viertel-für-Viertel-Melodien (z.B. Nr. 39) liebt er die Synkope (und da gerne zu Beginn der Melodie mit Achtel-Viertel-Achtel: Nr. 8, 12/13, 34, 42, 45, 51). Oft blitzt ein harmonisches Schema hindurch, das wohl das ganze Lied angeregt hat (z.B. Nr. 19, deutsche Bezeichnung: C / H7 / B / A7 / Fm / C / D7 / G7; oder im Klassiker von 1977 „Wenn die Welt euch verlacht“, Nr. 67: D / Dmaj7 / D7 / H7 / em / A7 / E7 / A7). Ohrwurm-Qualitäten hat Nr. 66 („Kennst du Jesus Christus“) mit gospelartigem, sechzehnfachem Repetieren auf nur einem Ton. Harmonisch sehr kühn, aber eben textbezogen ist Nr. 52 „Komm, Geist der Wahrheit, in mein Herz und bring Klarheit“.

Viele Einzelheiten zeugen von geglücktem Wort-Ton-Verhältnis, wenn z.B. in Nr. 20 „Herr, du hast dich erniedrigt“ auf „erniedrigt“ die Melodie nach unten geht, um bei dem Wort „erhoben“ – natürlich – wieder aufwärts zu steigen. Gelegentlich nutzt Thiede den Oktavsprung aufwärts, um Freude zu signalisieren (Nr. 7 „Jesus, ich danke dir“, Nr. 61 „Der Tag beginnt“), dagegen mit ruhigen Notenwerten und sparsam gesetzten Harmonien das Nachtlied (Nr. 64 „Schon sinkt die Sonne, zeigt sich der Mond“), ganz in barocker Tradition den Herrn betonend, der an dem Punkt, wo Menschen ihr Planen und Sorgen unterbrechen müssen, mit seinem Geist zur Seite ist und vollendet, was Menschen nicht vollenden können.

In über 50 Jahren ist nicht alles gleich gut geraten, aber ich würde dem Bändchen jedenfalls Gemeinden wünschen, die sich zu Klavier oder Gitarre zusammensetzen, um Neues zu entdecken und zu singen, was (noch) nicht in den bisherigen Liedersammlungen steht. Einige englische Fassungen werden das noch erleichtern. Und mitunter helfen schmissige Melodien (Nr. 18 „Du meine Freiheit“, Nr. 38 „Gott hat uns lieb“, ferner z.B. Nr. 19, 66 und 67), sich im Ohr festzusetzen.

Siegfried Meier