Wer für die Unterrichtspraxis nach Modellen, fertigen Unterrichtsentwürfen oder auch nur spritzigen Ideenbausteinen sucht, wird von der schnöden Länge, dem theoriebestimmten Ansatz und der schillernden Vielfalt der Beiträge in diesem Band enttäuscht. Wer dagegen trotz hoher Motivation und Freude an der Arbeit mit Schüler*innen im Fach Religion zunehmendes Unbehagen verspürt, ob traditionelle Lehrpläne, Methoden und Inhalte noch Resonanz oder gar Lust an Religion unter jungen Menschen wecken, denen ist der Band sehr zu empfehlen.

Exemplarisch formulieren Herausgeberinnen und Autoren dieses Unbehagen an der Unterrichtskultur in zwei ketzerischen Fragen: „Fridays for Future, Abraham oder Sühnopfertheologie?“ (Gojny, Schwarz, de Witten)und „Muss die Bibel, Gott, das Subjekt im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen?“ (Schröder). Ausführlich nehmen sie ausgesprochene wie unausgesprochene, wirkmächtige Voraussetzungen des Religionsunterrichts historisch-kritisch unter die Lupe.

Im Ergebnis stellt sich heraus, dass in der Religionspädagogik der vergangenen Jahrzehnte intensiv an der Anpassung des Religionsunterrichtes an allgemein- wie fachdidaktische Entwicklungen gearbeitet wurde. Deshalb werden zunächst Einflüsse und Fragestellungen der theologischen Fachdisziplinen (Götz, Guttenberger, Hamilton, Huizing, Wien) ebenso erkundet wie das soziale Umfeld Schule selbst (Pezzoli-Olgiati, Fricke, Goiny), einschließlich seines entscheidungsstarken (daher kritikwürdigen) Überbaus (Husmann) in ministerialen Lehrplankommissionen und anderen Instanzen. Dagegen hätten sich die eigentlichen Inhalte in den letzten Jahrzehnten nur wenig verändert. Ihre Auswahl erfolgt überwiegend funktional zu didaktischen Erfordernissen. So läge der Verdacht auf der Hand, der bisherige Umgang mit Bibel und der Geschichte des Glaubens fördere eine einseitige „Nostrifizierung“ des überlieferten Christentums, ohne seinen Inhalten die ihnen eigene Wirkmächtigkeit, aber auch Befremdlichkeit zuzugestehen.

Solche Entwicklungen werden längsschnittartig in Lehrplänen identifiziert (Witten), aber auch im Blick über den europäischen Tellerrand (Mayer). Zuletzt wird versucht, Kriterien für neue Inhalte wie Nachhaltigkeit (Schimmel, Straßner), Friedensbildung (Caspary), menschliche Bedürfnisse contra Digitalität (Grasser, Nord), Globalität (Simojoki) zu entwickeln. Emotionen kommen als Auswahl- und Strukturprinzip für Inhalte in den Blick (Gennerich), ebenso wie die Zielgruppe der konfessionslosen Lernenden – gegen eine Sichtweise der Milieuverengung auf die Kirchlichen (Bucher), Empowerment als „Befähigung und Bevollmächtigung zu einer daseinsmächtigen Lebensführung“ wird gegen Traditionsfixierung (Domsgen) in den Vordergrund gestellt. Neue Quellen könnten die (christlich) religiöse Praxis selbst in resonanzorientiert-performativer Aneignung und Szientismus (Leonhard) sein, aber auch die Vielfalt tatsächlich gelebter Religiosität der Gegenwart (Riegel). Die konfessionell-kooperative Perspektive ist dabei ebenso im Blick (Wappowa) wie jüdische sowie muslimische Aspekte eines „mulitreligiösen Religionsunterricht[s] der Zukunft“ (Landthaler/Ulfat).

Die Herausgeberinnen und Herausgeber der Studien wollen Religion im Religionsunterricht durch Hervorhebung der ihr selbst innewohnenden Plausibilität wieder in der Mitwelt von Schüler*innen als auch Lehrkräften zu ihrem Recht zu verhelfen – zumindest in der im Unterricht gemeinsam geteilten Zeit. Herausgekommen sind dabei Beiträge, die zusammen ein vielschichtiges Gebirge aus aktuellen Feldforschungen, Forschungsberichten und Metastudien ergeben. In der Zusammenstellung von Studienergebnissen, Erwartungen und prospektiven Ausblicken ergibt dies beim Lesen aber auch eine gewisse Unübersichtlichkeit, um nicht zu sagen: Undurchsichtigkeit der Argumentationseben, ja sogar Ergebnisse, die sich teilweise gegenseitig dementieren. Dabei, so das Fazit, stünden die eigentlichen, lehrplanrelevanten Aufgaben noch bevor: „Wie gehen andere Fächer mit ihren ‚Sedimenten‘ um? Wie stark ‚entrümpeln‘ sie und was erscheint angesichts neuer Perspektiven als reif für den Wertstoffhof?“ (397).

Auch aus diesem Grund bietet die Studie keine fertigen didaktischen Antworten. Vielleicht ist die Aufgabe auch zu gewaltig, um sie in einem einzigen Sammelband zu bewältigen. Vermutlich sind es nicht mehr die großen Kommissionen, sondern viele theologisch profund gebildete, neugierige und auch nach Jahren vor Schulklassen noch wissbegierig gebliebene Lehrkräfte selbst, die sich auf diese Aufgabe zu eigen machen sollten und dann ihre Ziele erreichen könnten. Fündig an neuen Ideen, Blickrichtungen, Fragestellungen und Ansätzen des Zugangs zur Religion bei Schüler*innen der Gegenwart wird man bei Goiny, Schwarz und Witten allemal.

Uwe Stenglein-Hektor