„Was glauben wir wirklich? Das heißt so, dass wir mit unserem Leben daran hängen?“ Diese Fragen Dietrich Bonhoeffers stehen für Gernot Gerlach im Zentrum der Aufgabenbeschreibung von Theologie und Kirchen (350). Auch im Ringen um Antworten lässt sich Gerlach als Theologe wie auch als langjähriger Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Internationalen Bonhoeffer-Sektion, deutschsprachige Sektion, von der Theologie Bonhoeffers inspirieren.

In seinem opus magnum, das mit insgesamt über 700 Seiten auf zwei Bände angelegt ist, stellt Gerlach eine mutige und umfassende Zukunftsvision von Kirche 2040 vor, die sich durch den Dreiklang Transformation, Ökumenizität und Metanoia auszeichnet. Ist der erste, ausführlichere Band grundlegenden Überlegungen zur Entfaltung dieses Dreiklangs gewidmet, so macht es sich der zweite Band zur Aufgabe, diese Überlegungen am Beispiel dreier aktueller globaler Transformationsprozesse zu illustrieren: am Klimawandel als ökologisch-ökonomischer Krise, der Migration als sozial-relationaler Krise und der Covid-19 Pandemie als gesundheitlich-geistlicher Krise.

Transformation. Gerlach lässt sich in seinen Untersuchungen von der kirchentheoretischen Entscheidung leiten, zwischen Reform- und Transformationsprozessen zu differenzieren (40f). Zwar ist auch die Kirche seit ihren Anfängen mit beständigen Reformprozessen konfrontiert („ecclesia semper reformanda“ – „die Kirche ist beständig zu verändern“), doch hat Gerlach hier tiefergreifende und länger anhaltende Umwälzungsprozesse im Blick, die er unter den Begriff „Transformation“ fasst.

Um die Bedeutung dieser vielschichtigen Transformationsprozesse für die Kirchen heute zu erfassen, bedient er sich eines multidisziplinären Zugangs und greift – neben der Theologie – auf Erkenntnisse u.a. der Soziologie, Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaften zurück. Dabei ist die Interdisziplinarität in der Anlage und Methodik seines Werkes keineswegs beliebig, sondern gründet im Kirchenverständnis Bonhoeffers. Als ein Beispiel für die drastischen Umwälzungen verweist Gerlach auf die Veränderungen in der globalen Landkarte des Christentums (224): Lebten um das Jahr 1900 noch 82% der christlichen Weltbevölkerung in Europa und Nordamerika, so haben sich inzwischen die Mehrheitsverhältnisse umgekehrt. Im Jahr 2000 lebten bereits 60% der Christinnen und Christen im globalen Süden, mit steigender Tendenz. Dazu kommen zahlreiche weitere globale Transformationsprozesse wie der Klimawandel, Migration und die Covid-19 Pandemie, denen der zweite Teilband gewidmet ist.

Wie aber ist mit diesen gewaltigen Transformationsprozessen aus theologischer und kirchlicher Perspektive umzugehen? Wie sind sie zu beschreiben, zu interpretieren und welche konkreten Schlüsse sind aus ihnen zu ziehen?

Ökumenizität. Diesen Fragen stellt sich Gerlach aus einer explizit ökumenischen Perspektive, für die er wiederum Bonhoeffer als Inspirationsquelle anführt. Seine kundigen Ausführungen zu den Entwicklungen der ökumenischen Bewegung und des ÖRK münden in den vier klassischen kirchlich-diakonischen Handlungsdimensionen von Leiturgia,Martyria, Diakonia und Koinonia, denen er die theologischen Kernelemente der missio Dei und der metanoiavoranstellt (216ff, 290ff). Im ökumenischen Miteinander- und Füreinander-Sein (Bonhoeffer) sowie im gemeinsamen Lernen, Helfen und Feiern zeigt sich das, was Gerlach als „Öffentlich-Ökumenische Theologie“ (351) beschreibt.

Besonders zu würdigen ist hierbei die konsequente globale Ausrichtung von Gerlachs Überlegungen, die auch die Erfahrungen der Kirchen im globalen Süden miteinbezieht. Während er jedoch Fallstudien aus Lateinamerika wie auch aus Europa anführt, enthält seine kontinentale Skizze zu Afrika lediglich religionswissenschaftliche Anmerkungen. Auch hier wäre eine Fallstudie wünschenswert gewesen.

Metanoia. Im neutestamentlichen Begriff der metanoia, Umkehr, bündeln sich Gerlachs Anstiftungen für eine Kirche 2040. Auch hier ist Bonhoeffers Handschrift einer „Kirche für andere“ klar erkennbar. „Eine neue Perspektive einer Kirche für andere und mit anderen erschließt sich den Kirchen aus der Metanoia. … Perspektiven kommen mit einem Kompass kirchlich-diakonischen Handelns der Kirchen in den Blick, wenn die Frage nach Gottes Willen im Himmel wie auf Erden (Mt 6,10; Röm 11, 33-36) gestellt wird, wenn nach dem Auftrag der Kirchen, wenn nach Jesus Christus heute gefragt wird“ (289f).

Indem Gerlach auf Christus selbst und auf die aus der Begegnung mit ihm folgende metanoia als Quelle der Erneuerung verweist, bewahrt er die Kirchen zugleich davor, sich inmitten des Strudels der mannigfaltigen Transformationsprozesse gleichsam lediglich um sich selbst zu drehen. Stattdessen wird deutlich: Transformation aus metanoistischer-ökumenischer Perspektive ist weder Selbstzweck noch ist sie passiv. Sondern Kirche 2040 ist transformativ, indem sie sich und ihre Umwelt im Lichte und in der Kraft der einen Christuswirklichkeit sieht und gestaltet. Möge die Kirche 2040 weltweit viele in diesem Sinne Transformationsbegeisterte finden!

„Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Mit dieser Frage Jesu an den Blinden in Jericho (Lk. 18,41) eröffnen die Autoren Gernot Gerlach und Bernd Laukel ihre Studie, die nahtlos an die ersten beiden, von Gernot Gerlach verfassten Bände des Werks „Kirche 2024“ anschließt. Die jesuanische Frage setzt zugleich die Tonalität des vorliegenden dritten Bandes, der den Fokus auf die Zusammengehörigkeit von heilender Tat und rettendem Wort legt. Waren die ersten beiden Bände der „Kirche 2040“-Trilogie noch grundlegenden Überlegungen zu Transformation, Ökumenizität und Metanoia gewidmet bzw. deren Entfaltung anhand aktueller globaler Transformationsprozesse (s.o.), so richten die beiden Autoren nun den Blick auf die kirchlich-diakonischen Impulse für eine Kirche 2040. Wie bereits in den vorangegangenen zwei Bänden ist dabei eine konsequent ökumenische Perspektive handlungsleitend.

Auf drei kurze, einleitende Kapitel zu den drei Strukturelementen der Gesamtstudie Metanoia, Ökumenizität und Transformation folgt mit Kapitel 4 („Kirchen und Diakonie bewegt mit Kooperativ-Professionalität“) der Hauptteil dieser Studie. Unter Rückgriff auf Gunther Schendels Überlegungen zur Multiprofessionalität (2020) wird das Schlagwort „Kooperativ-Professionalität“ zum roten Faden dieses Bandes. Im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer entfalten die Autoren ihre kirchlich-diakonischen Impulse auf Grundlage folgender ekklesiologischer Prämisse: Die Kirche ist eine Caring-Community, die sich durch ihr gemeinschaftliches Miteinander- und Füreinander-Sein auszeichnet und die dazu durch Gottes Handeln befähigt wird.

Vor diesem Hintergrund plädieren die Autoren für eine engere Verschränkung von kooperativ-agierender Professionalität und Ehrenamt. „Es wird die These vertreten, dass die Frage der Kooperativ-Professionalität im ehrenamtlichen, nebenamtlichen und hauptamtlichen Bereich der Mitarbeiter:innenschaft integral in den Kirchenreformprozessen zu bearbeiten [ist]“ (25). Neben dem faktischen Rückgang der Hauptamtlichen in den nächsten Jahren führen die Autoren auch gute theologische Gründe für ihre These ins Feld. Sie zeigen auf, dass dieses Thema bereits seit den 1960er Jahren intensiv diskutiert wurde, insbesondere unter den Oberbegriffen des „Allgemeinen Priestertums der Getauften/Gläubigen“ bzw. der „kooperativ-professionellen Mitarbeiterschaft“ (33-61).

Aus ihren fünf Impulsen zur Förderung dieses Zusammenspiels – Aufgabe gestalten, Kulturwandel fördern, förderliche Strukturen schaffen, Fortbildungen ermöglichen, Finanzmittel bereitstellen – soll der vierte Punkt hier besonders hervorgehoben werden. Gerlach und Laukel weisen zu Recht auf die besondere Bedeutung von Fortbildungen hin, nicht nur für Hauptamtliche, sondern insbesondere auch für Ehrenamtliche (64f). Doch gehen ihre Forderungen dabei einerseits nicht weit genug und andererseits zu weit. Indem die Autoren Kirche und Diakonie/Caritas in die Pflicht nehmen, entsprechende Fortbildungen anzubieten, bleibt ein zentraler Player außen vor, nämlich die theologischen Fakultäten an den Universitäten. Aus praktischen (Stichwort: Nachwuchsmangel) wie auch aus ekklesiologischen Gründen (Stichwort: Priestertum aller Gläubigen) wird es zunehmend auch zu den Aufgaben der theologischen Fakultäten gehören, theologische Weiterbildungsangebote für Ehrenamtliche zu verantworten. Für eine Kirche 2040 – und man könnte ergänzen: auch für eine Kirche 2025 bzw. 2030 – werden inter- und transprofessionelle (Pfarr-)Teams zu einer tragenden Säule, deren Tragekraft jedoch nicht zuletzt auf der soliden theologischen Weiterbildung von Laien und Ehrenamtlichen beruht. Das von der Universität Fribourg (Schweiz) verantwortete, ökumenische Weiterbildungsangebot für Laien und Ehrenamtliche „CAS Grundfragen christlicher Existenz“ kann hier Schule machen. Statt jedoch diese Angebote vollständig kostenfrei anzubieten, wie es Gerlach und Laukel fordern, erscheint es sinnvoller, tragfähige Finanzierungsmodelle in Absprache mit den jeweiligen Kirchgemeinden oder Dekanaten zu finden.

Um Diakonie als Merkmal der Kirche 2040 geht es dann im folgenden Kapitel (72-100), gefolgt von einer an Bonhoeffer orientierten Meditation der Frage „Was glauben wir wirklich?“ (101-110). Sieben Thesen zur Weiterarbeit runden diese wichtige und impulsgebende Studie ab (111-117).

Es sei dieser Studie und ihren Erkenntnissen eine weite Verbreitung und besser noch: Umsetzung gewünscht auf der grundlegenden Einsicht, dass die Kirche 2040 „auf die Kraft eines aktiven, kreativen und zugleich leidenschaftlichen Glaubens setzt, der aus der Gewissheit gespeist wird, dass sich Gottes gegenwärtiges und kommendes Reich unter uns ereignen und ausbreiten will“ (2f).

Christine Schliesser