Die hessische Grundschullehrerin und Schulseelsorgerin Carolin Tschage hat ein fleißiges Buch vorgelegt, das sich auf ältere Einsichten und zugleich zahlreiche jüngere Studien stützt. Der kindlichen Seele, also Grundschülern in ihren Befindlichkeiten, „Raum zu schaffen“, ist ein sehr gut gewähltes Wort. Dabei bezieht sich „Raum“ einmal auf die Einrichtung eines buchstäblichen Raums der Stille (den „AndersOrt“), den sie vielfältig begründet und beschreibt, und zum anderen auf die Zeit und Gelegenheit, die den Kindern als Hilfe in Schwierigkeiten geboten werden sollen. – Warum kommen Pfarrer als Lehrer und Seelsorger nicht vor?

Die Verfasserin verweist auf ihre positiven Erfahrungen als Grundschulseelsorgerin und möchte nun, dass die in dieser Hinsicht gegenüber Gymnasien und Berufsschulen vernachlässigten Grundschulen mehr in den Blick kommen. Dazu gibt sie sehr konkrete, bis in die Einzelplanung gehende Hinweise und bietet Vorlagen an, wozu auf der Web-Seite des Verlages noch einmal zahlreiche Blätter (.pdf) zu 16 Themen hinzukommen, die geladen werden können.

Am Begriff „Seelsorge“ will Tschage festhalten und führt daher das alte, mythische Bild des Seelenvogels ein, das ihr gesamtes Konzept als Denkbild methodisch durchzieht. Sie greift zurück auf das gleichlautende Kinderbuch von Michal Snunit (hebr. 1985; dt. 1991). (Der Eigenname ist im Buch durchgängig als „Snuit“ wiedergegeben.) Was ist damit gewonnen? Die Kinder haben ein klares Bild und einen Begriff von dem, was Tschage mit „Seele“ meint: Es sind die Gefühle und Haltungen (56). Die Hinweise und Methoden, Kinder Gefühle entdecken und benennen zu lassen und damit umgehen zu können, sind ausgezeichnet und lebenswichtig! Das führt sie an gängigen Problemen durch, aber auch an Krisen der „kleinen“, „mittleren“ und „großen Lage“ (Wittmann), sowohl gruppenmäßig wie im Einzelsetting.

So gut das ist, staunt der Leser doch, dass mit dem Seelenvogel ausschließlich die Emotionen dargestellt und gemeint sind. Ist nicht Seelsorge mehr als Gefühlsschule, mehr als „Beratung“? Das kommt nur ganz kurz (z.B. 18, 108) und vorsichtig am Rande vor, wenn die Verfasserin vom christlichen Glauben, der ein Anker sein kann, spricht, und von einem christlichen Menschenbild, von einem, der mitgeht und zu dem man beten kann (nicht: betet). Ja, auch Schulgottesdienste werden erwähnt (z.B. 20f). Das ganze Problem der Religionen und Konfessionalität kommt nur insofern vor, als Eltern versichert wird, man wolle die Kinder nicht manipulieren (49). Na ja! Auch die Definition auf S. 25 sagt nicht, worin die Angebote auf die Bedürfnisse (sonst meist: „Bedarfe“) bestehen. Der Rezensent empfiehlt der Verfasserin mehr Mut, weiß aber auch um die diffusen Empfindlichkeiten unter Lehrerkollegen und in der Gesellschaft, wenn es um christliche Religion geht! Da ist die Vorsicht Tschages ein guter, aber nur erster Schritt zur Akzeptanz der Seelsorgerin als Christin.

Zwei Anregungen zu den schönen gestalttherapeutischen Bildern. Die Verfasserin weiß, dass echte Gefühle kurz sind: aber auch „negative“, selbst wenn es Ersatzgefühle sind, bitte nicht in den Papierkorb werfen (58), sondern angemessen beiseite legen. – Das Bild des Seelenvogels wird überspannt, wenn Kinder ihn fliegen lassen sollen (84): dann entfernt er sich ja vom Körper, wie die Exkursionsseele nachts in Ägypten oder in Germanien (um nichts Tragischeres zu nennen, weshalb man früher bei Sterbenden das Fenster offen ließ).

Noch zwei formale Nebensachen: Es ist eine betreute Lektüre, bei der die „lieben Lesenden“ „an die Hand genommen“ werden – das ist nicht jedermanns Geschmack. Auch die von der Verfassenden bevorzugte gendermoralische Korrektheit mit (angeblich neutralen) Partizipialkonstruktionen, die sie allerdings ausdrücklich nicht durchhält, zeigt gute Gesinnung bei jedoch gleichzeitig beschädigter Sprache.

Warum das Buch lesen? Weil es den Blick auf Grundschulkinder schärft und zur ernsthaften Überlegung anstiftet, für das Seelenleben der Kinder mehr zu tun, als im Unterricht oder zwischen Tür und Angel möglich ist. Dazu gibt die Verfasserin konkrete Anregungen für Lehrer, die nach Rückversicherung mit Kollegen, Schulleitung und Eltern in Weiterbildung, Raumkonzepten und der Einrichtung einer Schulseelsorge umgesetzt werden können. Für die Grundschule eben noch etwas Seltenes. Manches, wenn nicht vieles, was in dieser frühen Zeit in Kinder „investiert“ wird, wird sich später „auszahlen“!

 

Martin Weyer-Menkhoff