Klaus Wengst schließt mit seinem Büchlein einen „weißen Fleck“ auf seiner „neutestamentlichen Landkarte“ (5) und nimmt die Lesenden mit hinein in seinen Versuch, den Hebräerbrief zu erschließen und zu verstehen. An den Anfang stellt er seine Übersetzung des kompletten Hebräerbriefs.

Im ersten, als Einleitung dienenden Kapitel „Die Schrift als Grundlage und Raum“ zeigt Wengst, wie der gesamte Hebr. sein Material, seine Sprache und sein Denken aus den jüdischen Schriften in Form der Septuaginta schöpft. „Es findet sich im Hebräerbrief kein einziges Anzeichen von Distanzierung gegenüber Juden und Jüdischem, gegenüber dem zeitgenössischen Israel“ (34). Wengst bietet in diesem Kapitel zwei längere Exkurse zur auf Israel bezogenen Rede vom Sohn bzw. von den Kindern Gottes sowie zum Versöhnungstag.

Im zweiten Kapitel wird der Autor der Schrift näher in den Blick genommen, der am Ende in Hebr. 13,18-25 zwar den dezenten Anschein erweckt, Paulus zu sein, jedoch mit diesem nur das Jüdischsein teilt. Wengst stellt überzeugend heraus, dass der Verfasser sich als griechisch sprechender, christusgläubiger Jude der Zeit nach 70 n. Chr. zu erkennen gibt. Vielleicht könnte er zudem priesterlicher Herkunft gewesen sein, was seine kultische Theologie erklären könnte.

Im dritten Kapitel wird ausgeführt, dass wie der Autor auch die Adressaten als „griechisch sprechende jüdische Messiasgläubige“ (69) anzusehen sind. Besonders deutlich wird das u.a. in der Rede des Hebr. vom „Volk“, bei der „es nirgends ersichtlich [ist], dass er auch nichtjüdische Menschen einbezogen sähe. Er hat dabei allein Israel im Blick. Und dabei zeigt sich nicht die Spur einer Distanzierung“ (64). Verortet gewesen sein könnten Autor wie Adressaten im pluralen Judentum Alexandrias, dem das Bürgerrecht der Stadt größtenteils verwehrt blieb und das deshalb immer wieder Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt war.

Im vierten Kapitel wird als Anlass und Absicht des Schreibens die „Vergewisserung in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels“ (82) herausgestellt. Wengst legt dar, dass sich die vielen Komparative (z.B. Hebr. 8,6) dann erklären lassen, wenn aufgrund des zerstörten Tempels in der Gegenwart des Hebr. das in der Tora zum Kult (insbesondere dem Versöhnungstag) Gebotene gar nicht mehr ausgeführt werden kann. Das himmlische, ewige und unzerstörbare Heiligtum lässt sich angesichts der Tempelzerstörung so nicht als Ablösung des Judentums durch das Christentum oder gar als Überbietung des Judentums verstehen, sondern als Trost für die durch die Tempelzerstörung tief erschütterten jüdischen Messiasgläubigen. Der fatalen Endgültigkeit des ein für alle Mal zerstörten irdischen Tempels durch die Römer und der Unmöglichkeit der rituellen, hohepriesterlichen Versöhnungspraxis im Kult am Versöhnungstag stellt der Hebr. die Endgültigkeit des durch Jesus geschehenen Versöhnungswerkes im himmlischen Heiligtum entgegen.

Das folgende fünfte Kapitel bildet den Hauptteil des Buches und wendet sich der kultischen hohepriesterlichen Christologie des Hebr. zu. Wengst hebt zunächst im Anschluss an Hebr. 2 hervor, dass Jesus von Gott als Mensch geschaffen wurde und nicht Gott ist und folgt den weiteren Hinweisen des Hebr. auf das Menschsein Jesu und geht dann auf die Titel Jesu ein (Sohn Gottes, Gesalbter). Wengst zeigt dabei, wie zwar eine besondere Nähe Jesu zu Gott betont aufgezeigt wird (insbesondere in der Redeweise vom Sitzen Jesu zur Rechten Gottes), dass diese jedoch nicht als Vergottung Jesu verstanden werden muss. Ausführlich wird dann auf die eigentliche theologische Innovation des Hebr. eingegangen, das himmlische und ewige Hohepriesteramt Jesu nach Ordnung des Melchisedek im Anschluss an Gen. 14,17-20 und Ps. 110,4 sowie das durch ihn mit seinem Blut und Leben gewirkte einmalige Opfer. „Der Akt der Versöhnung findet nach dem Hebräerbrief nicht am Kreuz Jesu statt, sondern am unangreifbaren Ort des Himmels. An den ist Jesus nicht von sich aus gekommen. Der entscheidende Akteur ist Gott selbst, der den gekreuzigten Jesus zum einmal im Himmel agierenden Hohepriester machte“ (119f).

Im sechsten Kapitel wird die Bundeserneuerung (Jer. 31,31-34 zitiert in Hebr. 8,8-12) „als zentrales Element der kultischen Interpretation“ (130) behandelt. Im darauffolgenden Kapitel wendet sich Wengst dem Motiv der Überbietung und seiner Problematik zu, wobei er immer wieder betont: „Der Komparativ basiert auf der Analogie“ (136) und erfolgt im „Modus der Hoffnung“ (138). Der Komparativ hat aber „diejenigen, die sich darauf einlassen, nicht in den Zustand vollkommener Erlösung versetzt, sondern auf einen Weg gewisser Hoffnung gebracht“ (140). „Dass das erhoffte Ziel, das Hineinkommen in die Ruhestätte, nicht abwartend verharren lässt, sondern in Bewegung auf es hin versetzt, ist ein den Hebräerbrief bestimmender Zug“ (147). Dieses als Verheißung entworfene Ziel und der Weg dorthin werden im letzten Kapitel genauer in den Blick genommen.

In der Schlussbemerkung sieht Wengst den Hebr. als Zeugnis dafür, dass auch nach 70 n. Chr. die auf Jesus bezogene Gemeinschaft noch jüdisch geprägt war. Außerdem stellt er das große Manko der Argumentation des Hebr. heraus: „Es finden sich in ihr keine Ansätze, aus denen eine rituell eingebundene Versöhnungspraxis hätte erwachsen können. Es hat sich aus ihr kein gemeindliches Handeln, kein regelmäßig zu praktizierendes Begehen des Versöhnungstages durch diejenigen ergeben, für die er da ist. Nicht zuletzt daran dürfte es liegen, dass der Hebräerbrief gerade mit seinem zentralen Aussagenkomplex in der Kirche keine größere Wirkungsgeschichte gehabt hat“ (154).

Wengst arbeitet in seinem Buch eng am Text, legt ihn aus (allerdings nicht chronologisch, einem Kommentar gleich, dem Hebr.-Text folgend) und versucht, die angesprochenen Themen zu durchdringen und seine Argumentation zu rekonstruieren. Eingestreut werden in Exkursen atl., frühjüdische und rabbinische Parallelen sowie Zitate Philos, dessen ganz andere Denkwelt im Unterschied zum Hebr. sichtbar wird. Auf eine Auseinandersetzung mit Forschungspositionen und wissenschaftlicher Literatur wird (leider) verzichtet. Wie alle seine Arbeiten, so ist auch dieses Buch gespickt mit einer Fülle von theologisch anregenden Sätzen, die ihren Ausgang beim Hebr., seinem griechischen Text und seinem historischen Kontext nehmen und gerade in dieser Kontextgebundenheit enorm viel für unseren heutigen Kontext zu sagen haben. Aussagen wie die Folgende zum Glaubensverständnis des Hebr. tun gut in den gegenwärtigen Krisen und zeigen, wie überraschend aktuell der Hebr. an vielen Stellen sein kann: „‚Vertrauen‘ / ‚Glauben‘, wie der Vf. [= Verfasser des Hebr., D.H.] es versteht, streckt sich nach vorn, begnügt sich nicht mit dem, was ist, richtet sich nicht bequem in der Gegenwart ein; es ist bezogen auf ‚Erhofftes‘, auf das, was noch nicht ist, aber werden soll, ja, werden muss und werden wird. Auch wenn es noch unabsehbar erscheint, wie es anders werden könnte, ist dieses Vertrauen das Gegenteil von Resignation. Es drängt auf Verwirklichungen, und sei es auch nur in Fragmenten, auf Erweise des noch nicht Gesehenen“ (34).

Es lohnt sich sehr, dieses Buch zu lesen und mit ihm den Hebr. neu zu entdecken und sich diese anspruchsvolle Schrift jenseits der ausgetretenen Pfade zu erschließen.

 

Daniel Hoffmann