Der transcript Verlag hat bereits im Jahr 2020 die für die Geisteswissenschaften im Allgemeinen wie für die Theologie im Besonderen instruktive Reihe „Wie wir lesen – Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik“ ins Leben gerufen, deren nunmehr sechster Band im letzten Jahr erschien. Der als freier Journalist tätige Philosoph Florian Rötzer wendet sich in seinem Essay dem Thema „Lesen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz“ zu.
Ausgangspunkt seiner klugen Gedanken ist der epochale Umschwung, dass erstmals nicht mehr Menschen Texte verfassen, sondern Maschinen. „Die von den intelligenten Systemen verfassten Texte lassen sich zunehmend nicht mehr von solchen unterscheiden, die Menschen geschrieben haben“ (9). Es kommt zu einer Vermischung von menschlichen und maschinellen Texten, die es immer schwerer machen wird, Wahres von Unwahrem, Fakten von Fakes zu unterscheiden. Uns steht mithin eine große Verunsicherung bevor. Um der Uniformierung der menschlichen Sprache durch die Maschinen zu entgehen, werden nach Rötzers Prognose Sprechen und Schreiben wesentlich individueller werden müssen. Nur so wird eine Unterscheidung von maschineller und menschlicher Sprache künftig wohl noch möglich sein.
Im ersten Kapitel („Das leere Blatt“) blickt Rötzer auf den Beginn von Lesen und Schreiben in der Geschichte der Menschheit und zeigt, wie skeptisch viele wie beispielsweise Platon gegenüber den Büchern und ihren Inhalten waren. „Man könnte auch sagen, dass mit der Durchsetzung der Schrift der Leser zum Skeptiker, nicht nur zum Hermeneutiker werden muss“ (30). Rötzer kommt auch auf das entstehende Christentum zu sprechen und zeigt, wie die christliche „Feier der Einfalt“ (33) mit der Hochkultur und ihren Schriften brach, dessen Folge schon bald Bilderstürme, Tempelzerstörungen und Bücherverbrennungen waren (vgl. nur Apg. 19,19). „Der christliche Furor war eine radikale praktische Umsetzung einer allerdings nur bedingten Abwendung von den Büchern zur Rettung der einen Schrift, neben der keine anderen geduldet wurden“ (35). Die Überlegungen Rötzers kreisen dabei immer wieder um die leere Seite als Beginn des Lesens, Schreibens, als „ein Katapult ins Imaginäre, auch wenn sie heute auf den Bildschirmen durch exzessive Dynamik selbst so verdeckt wird, wie die leere Seite die Wirklichkeit verdeckt“ (56).
Im zweiten Kapitel („Sind intelligente Chatbots Psychopaten?“) wird der These des Neurowissenschaftlers Michael Graziano nachgegangen, dass die KI-gesteuerten Chatbots zu gefährlichen Psychopathen werden würden, wenn ihnen nicht ein Bewusstsein gegeben werde, das sie erst in die Lage zu Mitgefühl und prosozialen Verhalten versetze. Rötzer ist dieser These gegenüber skeptisch und geht ihr auch im direkten Austausch mit ChatGTP nach. Weder wissen die KI-Systeme, wie es ist, ein Mensch zu sein, noch wissen wir Menschen, „wie es ist, ein intelligenter Chatbot zu sein“ (70).
Im dritten Kapitel („Lesen ist nicht nur eine Kulturtechnik, sondern auch eine Körpertechnik, also eine Form der Biopolitik“) werden interessante Aspekte zum Lesen als Kulturtechnik zusammengetragen, wobei deutlich wird, wie sehr unsere Gegenwart durch das Lesen geprägt wurde. Die drei zentralen Eigenschaften Lesender und Schreibender, nämlich „körperliche Passivität, höchste Konzentration und Abwendung von der Welt“ (80), werden in ihrer Entstehung, ihrem Potenzial und ihren Gefahren erkundet. Zum Beispiel wird gezeigt, dass der homo sedens – auch der vor PC-Bildschirmen sitzende Mensch unserer Zeit – eine Folge des Schreibens und Lesens ist.
Im letzten Kapitel („Maximale Geschwindigkeit: Rasen auf der Textautobahn“) kommt wieder die Gegenwart in den Blick: „Nicht mehr das deep reading des Träumers ist heute angesagt, sondern effizientes und optimiertes speed reading mit maximaler Geschwindigkeit“ (116f). Fürs speed reading müssen Texte völlig ins digitale aufgelöst und entkörperlicht, sowie gnadenlos vereinfacht und vereindeutigt werden. So geht es dann nicht mehr um anregendes Flanieren und Verweilen, sondern um „kognitive Fließbandarbeit“ (118). Den „Ozean der Texte“ (120), der uns mit seiner Grenzenlosigkeit heute im Internet offensteht und zum Taumeln bringt, werden wir damit allerdings nicht bewältigen können, die KI wird uns immer um Längen voraus sein.
Der nicht streng systematisch oder chronologisch geordnete Essay umkreist das Thema Lesen in verschiedenen Anläufen und bringt dabei immer wieder erhellende Gedanken und pointierte Thesen zu Gehör. Rötzer illustriert damit eindrücklich, was menschliches Schreiben und Lesen so einzigartig macht: Neues zu denken, ohne dabei festen, immergleichen Spuren zu folgen, bewusst „ich“ zu sagen und Thesen zu vertreten, die zwar gut begründet sind, für die die schreibende Person aber ein- und geradesteht und als ein solches personales Gegenüber zur Auseinandersetzung anregt. Man kann nur hoffen, dass Rötzers kluger Essay auch andere stimuliert, über das Lesen als grundlegende Kulturtechnik nachzudenken und darüber ebenso leicht und anregend zu schreiben. Mögen der Reihe „Wie wir lesen“ noch weitere ähnliche Bände beschieden werden!
Daniel Hoffmann