Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt zwischen Israels Regierungspolitik und teils terroristischer palästinensischer Gegenwehr nennt Israels preisgekrönter Schriftsteller David Grossmann einen „Kreislauf der Selbstzerstörung“ oder „todbringenden Teufelskreis“. Schon immer hat er mit der Kraft seines Wortes diesen Kreislauf unterbrechen wollen. Genaue Wahrnehmung der anderen Seite, mutige Schritte des Entgegenkommens und unmissverständliche Kritik an der Politik der eigenen Regierung kennzeichnen dafür bis heute seine sensiblen Einmischungen in den mörderischen Konflikt. Nichts wünscht er sich mehr, als dass Juden und Araber zwischen Jordan und Mittelmeer in Frieden miteinander leben können.

Jetzt bringt der Münchener Hanser-Verlag ein kleines, preiswertes Büchlein mit sieben seiner jüngsten Reden und Artikel heraus. Darin wird Grossmanns Option für den Frieden konkret. Sie seien hier in einer eigenen Dramaturgie vorgestellt, beginnend mit Grossmanns leidenschaftlicher Klage nach dem 7. Oktober über den Albtraum des „schwarzen Schabbat“ und seiner Trauerrede in Tel Aviv für die Terroropfer und ihre Angehörigen. Noch ganz nah am Geschehen des schwarzen Schabbat schreibt Grossmann, „dass die Gräueltaten dieser Tage nicht Israel zuzuschreiben sind, sondern auf das Konto der Hamas“ gehen. Auch in der Hierarchie des Bösen gebe es eine Rangordnung. Ganz oben stehen auf ihr Terroristen, die junge Leute einkreisen, „um sie dann unter Jubelschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen“, und dabei ihr menschliches Antlitz verlieren. Doch Großmanns Empörung gilt auch einer Netanjahu-Regierung, von der sich Israelis „jahrelang verführen ließen“. Und die nicht dafür gesorgt hat, die „nationale Heimstätte für uns Juden“ durch eine friedliebende gerechte Politik zu sichern.

Unter dem Eindruck der Verbrechen des 7. Oktober und seiner Folgen vermutet Großmann, dass das Land „nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer“ sein wird, die Polarisierung werde weiter vorangetrieben. Die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf „ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volkes“ würde nun zumindest „für einige Jahre auf Eis gelegt.“ Israelis könnten nun wohl auf ewig in ständiger Kriegsbereitschaft leben – „immerzu fragend, ob uns jemals ein normales, von Angst und äußerer Bedrohung freies Leben vergönnt sein wird“.

Vierzig Tage nachdem er diese Worte für eine deutsche Tageszeitung schrieb, wurde Grossmann gebeten, in Tel Aviv eine Trauerrede zu halten für die vergewaltigten, ermordeten und als Geiseln gefangenen Opfer des Terrors der Hamas. Seine Worte stellt er jetzt unter den optimistisch klingenden Titel „Unser Mut zu einem ganz neuen Anfang“. Zwar gilt für ihn nach wie vor, dass die jetzt Trauernden nach den Bildern der Gräuel „nie wieder die sein werden, die wir einmal waren“. Aber er erinnert auch an „die unfassbare Kühnheit junger Leute, die im wahrsten Sinne des Wortes dem Bösen ihr Leben entgegengeworfen haben, um andere zu retten. Um die Familie, das Haus, den Kibbuz und oft auch Unbekannte zu schützen.“

Nur im Echoraum des Verlustes sei jetzt noch die zutiefst private Kultur der zerstörten Familien erfahrbar. Großmann fragt sich und die Trauergemeinde: „Wie sollen wir uns erheben, nachdem wir in die dunkelsten Abgründe geschleudert worden sind?“ Und er antwortet selbst, indem er darauf verweist, dass einige die schweren Prüfungen der Zukunft bereits heute bestehen: „in der mitreißenden Solidarität“ miteinander, „in der massiven zivilen Mobilmachung, mit der die Bevölkerung zu reparieren versucht, was die Regierung zerbrochen hat“. Seine Rede endet vorsichtig optimistisch mit den Worten, dass es möglich sein könnte, „zum zweiten Mal einen neuen Staat aufzubauen … Mit euch, eurer Kraft, eurem Mut könnte uns ein ganz neuer Anfang gelingen.“

Voraussetzung für diesen neuen Anfang ist eine Einsicht, die Grossmann bereits zweieinhalb Jahre zuvor nach einer anderen schmerzhaften israelisch-palästinensischen Auseinandersetzung ausgesprochen hat. Seine damals ebenfalls in Tel Aviv gehaltene Rede stand unter dem Motto „Trotz alledem“. Wir lesen heute erstaunt, dass Grossmann seine Erkenntnisse 2021 ausdrücklich „den Kindern in den Ortschaften an der Grenze zum Gazastreifen und den Kindern im Gazastreifen“ gewidmet hat. Er fasst sie zusammen in dem Satz: „Der echte Kampf heute findet statt zwischen jenen Arabern und Juden, die danach streben, in einer fairen Partnerschaft zusammenzuleben, und denen, die sich seelisch und ideologisch von Hass und Gewalt nähren“.

Weitere vier Jahre zuvor hatte Grossmann 2017 auf der Münchner Sicherheitskonferenz den Staatslenkern der Welt gesagt: „Diese Jahre sind vielleicht die letzten, in denen es noch möglich erscheint, ein Abkommen auszuhandeln, das beiden Seiten Sicherheit, Souveränität und Frieden beschert. Die Lage wird von Tag zu Tag explosiver … Die Lösung muss durch einen direkten Dialog der beiden Seiten durch internationalen Beistand und, was nicht weniger wichtig ist, mit Unterstützung der arabischen Staaten erreicht werden … Zeigen Sie Empathie angesichts der Ängste beider und angesichts des Leids, das über beide gekommen ist … Wieviel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“

Im Juni letzten Jahres beantwortete Grossmann dann einer deutschen Zeitung die Frage, was für ihn ein jüdischer Staat sei. Seine Antwort steht ebenfalls in dem hier vorgestellten Büchlein. Sie gibt Auskunft darüber, welchen Frieden Grossmann für die einzig befreiende Option hält. Er votiert für einen Prozess, der eine Realität erschafft, „die jedem Menschen, ob er nun der Mehrheit oder der Minderheit angehört, das Gefühl vermittelt, er könne sich frei entfalten, sei geschützt und in allen Institutionen – bei Übernahme aller Pflichten und Rechte – gleichberechtigt vertreten, dürfe, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht, in Würde leben und die prägende Geschichte seiner Gemeinschaft pflegen, ohne die prägenden Geschichten anderer zu beeinträchtigen.“

Grossmann kommt dabei in der Sache Omri Boehm, dem diesjährigen Preisträger der Leipziger Buchmesse für internationale Verständigung, sehr nahe. Boehm ist ein in Haifa aufgewachsener, zurzeit in Berlin lebender Israeli. In seinem Buch „Israel – eine Utopie“ begründet und skizziert er die kühne Vision eines gemeinsamen Staat für zwei Völker (Juden und Palästinenser), die dann eine Realisierungschance hat, wenn beide Völker wechselseitig anerkennen, was die Geschichte des jeweils anderen Volkes geprägt hat. Für Israel waren das Holocaust und Antisemitismus, für Palästinenser die Nakba, also die Katastrophe der Vertreibung aus ihrer Heimat. Wenn beide Völker ein Ende des eigenen Leides herbeisehnen und dabei auch das Leid des anderen sehen und anerkennen, gar daran an gemeinsam gefeierten Gedenktagen erinnern wollen, kann Boehms Utopie Wirklichkeit werden. Vom Fluß (Jordan) bis zum (Mittel-)Meer lebten dann zwei Nationen mit zwei einander verwandten Sprachen (arabisch und hebräisch) in einem gemeinsamen Staat mit einer gemeinsamen Hauptstadt; Böhm denkt hier z.B. an Haifa, wo es vor Jahrzehnten schon einmal ein mutiges, aber folgenloses Bündnis zwischen Palästinensern und Juden gegeben hat.

Genauso wie für Boehm ist für Grossmann die Wahrnehmung des Leides auch des anderen Volkes Voraussetzung für jede Friedensoption. Doch dürfte dem Realisten David Grossmann Boehms Utopie vermutlich zu weit gehen. Am Ende seines Büchleins stehen stattdessen Worte, die an die revolutionären Tagebuchnotizen der von den deutschen Nazis in Auschwitz ermordeten Etty Hillesum anknüpfen. Sie wollte „das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein“. In ihrem Sinn fragt Grossmann sich selbst und seine Leserschaft: „Werden wir die Kraft haben, an dieser persönlichen Revolte festzuhalten und nicht aufzuhören, das Herz zu sein, das fühlende Herz, aufgerissen, ungeschützt, und auch nicht aufhören zu denken? Das denkende Herz zu sein. Immer und immer wieder das denkende Herz.“

 

Ulfrid Kleinert