Der Israel-Palästina-Konflikt wird seit dem 7. Oktober und allem, was danach geschah, mit großer Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Auf tragische Weise ad absurdum geführt erscheint nun die Vorstellung, den Konflikt allein durch Gewalt eindämmen zu können. Welche Voraussetzungen aber müssen geschaffen werden, damit Israelis und Palästinenser nachbarschaftlich miteinander leben können? Der bereits im Sommer 2023 fertig gestellte Band bietet weiterhin gültige Leitplanken für eine konstruktive Neubesinnung in politischer, völkerrechtlicher sowie biblisch-theologischer Perspektive. Verfasst wurden die Beiträge von zwölf ökumenisch renommierten Autor*innen aus Südafrika, USA, Palästina, Israel, Schweden und Deutschland. Angesichts der Fülle des ausgebreiteten Materials können im Folgenden nur einige Denkanstöße hervorgehoben werden.

Ein erster Teil von etwa 50 Seiten wendet sich der Rolle von Kirchen und ihrer Theologie in diesem Zusammenhang zu. Die Texte von Marthie Momberg, Nahed Samour und Mark Braverman machen deutlich, wie sich die Entrechtung von Palästinensern in pseudobiblischen Begründungen im christlichen Zionismus wie in der Verweigerung offener Diskussion auf ökumenischen Konferenzen zeigen kann. Zwischen verschiedenen Kirchenfamilien werden völkerrechtliche Kategorien wie ethnische Säuberung, Besatzung und Siedlerkolonialismus leider höchst unterschiedlich behandelt. In der deutschen Diskussion wird der Begriff der Apartheid häufig mit dem Hinweis auf die seinerzeit so anders geartete Situation im südlichen Afrika zurückgewiesen. Deshalb wird in dem Band der Vorschlag gemacht, im Blick auf die Situation in Palästina/Israel von einer spezifisch israelischen Form der Apartheid zu sprechen.

In einem zweiten Teil des Buches geht es auf über 100 Seiten um Sinn und Irrsinn der gegenwärtig ausufernden Diskussion um Antisemitismus. In den Beiträgen von drei Autoren – Charles Amjad-Ali, Ulrich Duchrow und Muni A. Younan – wird deutlich, wie Israel das Schimpfwort „Antisemitismus“ gleichsam als Knüppel der Verteidigung gegen jede Kritik verwendet. Zudem zeigt Shir Hever, dass die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) ‒ nach manipulierenden Erweiterungen ‒ von den USA, der EU und vor allem Deutschland benutzt wird, um Kritik an Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen sowie Landraub zu diskreditieren. Die Autoren unterstreichen die Notwendigkeit, den historischen und sowie jeden aktuell auftretenden Antijudaismus zu überwinden. Zurückgewiesen wird die Unterdrückung palästinensischer Stimmen durch „Antisemitismusbeauftragte“ und proisraelisch geprägte Vereinigungen, die nicht davor zurückschrecken, Solidaritätsgruppen und Einzelpersonen als „antisemitisch“ anzugreifen.

Der dritte Teil bietet auf 80 Seiten erfreulich konstruktive Denkanstöße. Im Blick auf die Frage von Landverheißung und Thora erörtert Hans-Jürgen Abromeit historische und aktuelle Wege der Herstellung von Gerechtigkeit und Visionen eines zukünftigen Friedens. Dies geschieht anhand der unterschiedlichen Landfragekonzepte in den Büchern Richter/Hesekiel auf der einen und dem Buch Josua auf der anderen Seite. Gerd Theißen verneint, dass biblischer Monotheismus und heutiger Religionspluralismus Gegensätze sein müssen und unterstreicht, dass der Gottesglaube Israels auch eine inklusive Religionstoleranz begründet. In den Beiträgen von Aleida Assmann und Helga Baumgarten wird deutlich, dass neue Formen der Erinnerungskultur insbesondere in Deutschland zur Auflösung politischer Verknotungen und zu einer gemeinsamen Zukunft der Völker in Palästina-Israel beitragen können. Vor allem würde sich viel ändern, wenn Israel nach dem Trauma der Shoa bereit wäre, in das eigene Narrativ nicht nur den Triumph der Staatsgründung, sondern auch die Katastrophe der Vertreibung des palästinensischen Volkes (Nakba) einzuschließen.

Zwei Texte sind programmatisch anden Anfang des Buches gestellt. Dies unterstreicht, dass es den Herausgebern nicht zuletzt um eine ökumenisch vertiefte Diskussion und angemessene Antworten von Seiten der christlichen Kirchen geht. So steht am Anfang der 2020 veröffentlichte Brief palästinensischer Kirchenvertreter mit dem Titel „Schrei nach Hoffnung: Aufruf zur Entscheidung und zum Handeln“. Dazu kommt der Beschluss der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Karlsruhe 2022, der im Wortlaut abgedruckt ist. Er enthält den Aufruf an die Mitgliedskirchen, die Berichte der Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch, B’Tselem, Amnesty International und Al-Haq) zu studieren und zu Entscheidungen zu kommen, die in der gegenwärtigen Situation weiterführend sind. Auch der an den Schluss gestellte Offene Brief der schwedischen Pfarrerin Anna Karin Hammar an Papst Franziskus unterstreicht die Suche nach einer ökumenischen Antwort im Blick auf die „völkerrechtliche Anerkennung des israelischen Verbrechens der Apartheid“.

War dieser Band vor dem 7. Oktober schon wichtig, so gilt das heute um ein Vielfaches mehr. Höchst empfehlenswert!

 

Dieter Becker