Über Religiosität wird wieder gestritten. Wo ist sie zu finden? Wer darf sie deuten? Welche Rolle spielt dabei die kirchliche Praxis? Diese Fragen, die die Praktische Theologie seit ihren Anfängen umtreiben, werden derzeit im Kontext der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung neu zugespitzt. Gerade auch vor diesem aktuellen Hintergrund weist Kristian Fechtners Beitrag einen inspirierenden dritten Weg. In Kontinuität zu seinen früheren kasualtheologischen Arbeiten, vor allem aber anknüpfend an sein letztes Buch „Diskretes Christentum“ (Gütersloh 2015) fokussiert sich Fechtner diesmal ganz auf das private Christentum.
Schon der Titel lässt aufhorchen: „Mild religiös“ – mild wie eine Maibrise, wie Schonkaffee oder eine gnädige Richterin? Dies bleibt fürs Erste offen. Milde Religiosität, mit diesem Schlagwort verbindet der Mainzer Professor ein „unscheinbares Christentum“ (22), eine sachte, eher beiläufige Religiosität, die nichtsdestotrotz lebensweltlich anschaulich wird. Der Engelanhänger am Schlüsselbund, Yoga im Gemeindehaus, Secondhand-Klamotten und weniger Fleisch – auf der Suche nach alltäglichen und außeralltäglichen Praktiken, die sich legitimerweise christlich-religiös deuten lassen, trägt Fechtner eine Fülle von empirischen Beobachtungen zusammen, die in Form dichter Beschreibungen in die Materie einführen und sich durchs ganze Buch ziehen.
Mag eine solch milde Religiosität aus der Sicht einer kirchlich geprägten Glaubenspraxis unterbestimmt oder zu sporadisch wirken: Aus Sicht der Subjekte, so Fechtner, wirke sie konkret, stimmig und als implizite „Grundierung ihres Lebens“ (21). Ganz bewusst greift er dabei auf den Begriff der Frömmigkeit zurück und will darunter all das zusammengefasst wissen, was sich „als subjektivierte Religiosität im Referenzraum des Christlichen verortet bzw. verorten lässt“ (36).
Die theoretischen Parameter dafür werden in einem grundlegenden Kapitel auf pointierte Weise skizziert. Dabei verortet sich Fechter auf dem chronisch unterentwickelten Feld der evangelischen Aszetik mit einem eigenen, liberal-theologisch geprägten Ansatz, der die im bisherigen aszetischen Diskurs vorherrschenden Alternativen von Traditionsfrömmigkeit bzw. frei flottierender spätmoderner Spiritualität im Sinne einer „popularen Religiosität“ (34) zu überwinden sucht. Selbstverständlich hinzu gehört für ihn die Beschäftigung mit aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepten, wobei sich insbesondere die in den letzten Jahrzehnten gewachsene Aufmerksamkeit für Körper, Praktiken und Artefakte als produktiv erweist. Im Sinne neuer Leitbegriffe schlägt er vor, Frömmigkeit als „Selbstformung“, als „Resonanzgeschehen“ sowie als „Ensemble von Praktiken“ zu verstehen.
Den Hauptteil des schmalen Buchs bilden sodann eine Reihe von „Erkundungen“, von Engelfiguren und Unfallkreuzen über Weihnachtsfrömmigkeit bis zu Yoga und Musikhören. Als Ordnungsprinzip nutzt Fechtner dabei vier Felder, die er als „Grundaspekte gegenwärtiger Frömmigkeit“ (24) versteht: die Gegenständlichkeit des Religiösen, Zeiten und Orte, die Frömmigkeit des Körpers sowie Religion als Klang. Manches in diesem Erkundungsteil mag für kundige Leser*innen bereits bekannt sein, und dennoch lohnt sich die Lektüre. Die einzelnen Abschnitte bieten eine vorzügliche Zusammenstellung der jeweiligen Forschungsstände inklusive umfangreicher Literaturhinweise und bilden so einen geeigneten Ausgangspunkt für jede, die sich z.B. mit dem Pilgern oder dem Fasten näher befassen möchte. Was etwa im Bereich der Social Media auf dem religiösen Feld in christlicher oder christentumsaffiner Hinsicht geschieht, bleibt allerdings außen vor.
So ergibt sich in der Zusammenschau ein überraschend harmonisches Bild. Zwar zeichnen sich die geschilderten Phänomene durch ihren hybriden, optionalen Charakter aus, d.h. sie gehen nicht in ihrer religiösen Funktion auf und werden von den Subjekten nicht als zwingend erlebt. Und doch weisen die empirischen Vignetten auf ein relativ hohes Maß an Korrespondenz zwischen privater und kirchlicher Praxis hin. Nirgendwo deuten sich handfeste Konflikte oder gar Grenzen der Verständigung an. Dies hängt gewiss mit der bewussten Beschränkung auf Phänomene mit explizit christlichem Bezug zusammen, vielleicht aber auch mit der Vorliebe fürs Milde. Denn dass sich Fechtners Sympathie für eine milde Religiosität mit dem Konzept einer offenen Volkskirche verbindet, ist überdeutlich.
Doch wie gut passt dieses jahrzehntealte Programm zu den gegenwärtigen Herausforderungen? Unterschätzt Fechtner nicht die Dynamik des religiösen Wandels und besonders den Prozess der Entkirchlichung? Seine abschließenden Bemerkungen zum kirchlichen Handeln sind für meinen Geschmack jedenfalls zu knapp geraten. Fechtner wirbt dafür, Frömmigkeitspflege als eine Aufgabe kirchlichen Handelns zu begreifen. Welches Gewicht sollte dieser Aufgabe in den aktuellen Um- und Abbauprozessen zukommen? Welches Anregungspotential für ein visionäres kirchliches Handeln steckt darin? Darüber hätte ich gerne noch mehr gelesen.
Dieses Buch regt also nicht nur zu eigenen Erkundungen, sondern auch zu Religionsgesprächen an und gehört auf die Leseliste aller, die sich für gegenwärtige christlich-religiöse Praktiken und ihre theoretische Konzeptualisierung interessieren. Dass Kristian Fechtner zudem gewohnt fein und doch frei von aller wissenschaftlichen Arroganz formuliert, gestaltet die Lektüre leicht, um nicht zu sagen: milde.