Das neue Buch des Mainzer Praktischen Theologen knüpft an ein früheres an, das dem engen Zusammenhang zwischen Religion und Scham in unserer Gesellschaft galt (Diskretes Christentum. Religion und Scham, Gütersloh 2015, 22019). Die damalige These: Viele Zeitgenossen fühlten sofort Scham, wenn eine Religion sie mit übertriebener Entschiedenheit und einer vollmundigen Bekenntnissprache konfrontiert. Menschen reagierten heute zurückhaltend, wenn sie es mit offensiven Formen von Religionen zu tun bekämen. Das ist für Fechtner nachvollziehbar, denn unsere Zeit ist eine, in der (ehemals bürgerlich grundierte) Vorstellungen von Individualität, Autonomie und Distanznahme hoch im Kurs stehen. „Mild religiös“ erweitert nun die Schamthese um eine Komplementärperspektive: Die Zeitgenossen lassen die Größe Religion dem eigenen Seelenhaushalt sehr viel lieber in homöopathischen Dosen als in der unverträglichen Übermenge zukommen. Beliebt sind heute unverfängliche, angedeutete, leise, beiläufige, schnell kaschierbare Formen von Frömmigkeit – unter anderem deswegen, weil sie weder bei einem selbst noch bei anderen Schamgefühle irgendwelcher Art hervorrufen.
Wie milde Religiosität oder, wie man mit einem von Charles Taylor verwendeten Ausdruck vielleicht auch sagen könnte: wie „minimal religion“ in unserer Gesellschaft konkret aussieht, das schildert Fechtner in vielen, oft detailreichen Beobachtungen. Diese machen das Büchlein zu einer überaus nützlichen Wahrnehmungshilfe für alle, die in den religiösen Berufsfeldern der Gegenwart tätig sind. Insbesondere Haus-, Kranken- und Geburtstagsbesuche dürften nach der Lektüre leichter fallen als zuvor.
Noch immer kursiert in der evangelischen Kirche die Vorstellung, dass sich Frömmigkeitspflege wesentlich in der privaten Schriftlektüre niederschlage. In seinem leicht zu lesenden Buch zeigt Fechtner, dass in dieser Sichtweise eine Idealisierung liegt, der selbst Pfarrerinnen und Pfarrer nur selten gerecht werden. Gerade weil Fechtner „Sympathie für sporadische, anlassbezogene und beiläufige Formen gelebter Religion“ hegt, kann er sie auf eine für die Leserschaft gewinnbringende Weise beschreiben.
Eines allerdings lässt der Autor in seiner vor der KMU VI veröffentlichten Schrift offen. Das ist die mittlerweile drängende Frage, wie über die mild Religiösen im Zusammenhang postvolkskirchlicher Verhältnisse nachzudenken ist. Kristian Fechtner ist ein Anhänger von Ernst Troeltschs Idee einer elastisch gemachten bzw. zu machenden Volkskirche. Doch mittlerweile ist nicht mehr zu leugnen, dass die Volkskirche als dominierende Organisationform aus unserem Kulturraum verschwindet bzw. bereits verschwunden ist. Das stellt den Protestantismus vor Herausforderungen – und Fragen. Wofür soll er die geringer werdenden Ressourcen verwenden? Sollen die mild Religiösen durch die Kirche auf eine sanfte Weise umworben werden, auf dass man ihnen in der harten Währung der Kirchensteuer die Gegenrechnung für ihre Sympathie mit der christlichen Religion präsentieren kann? Oder soll man sich doch eher denen zuwenden, die es ernster meinen? Und wer verdeutlicht den mild Religiösen, dass sie erheblich vom Traditionsschatz der entschiedeneren Christen profitieren? Schließlich wird deren Schwund es auf lange Sicht erschweren, sich in milder Religiosität auszudrücken. Es ist zwar keineswegs ausgemacht, dass es Religiosität in unserer Gesellschaft nur in traditionellen kirchlichen Formen gibt. Doch scheint auf der Hand zu liegen, dass milde Religiosität von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht bewahren kann.