Ein altes, grundlegendes Thema, von dem die Jahreslosung 2024 erzählt, wird von Peter Bartmann entstaubt und auch etwas neu erfunden. Diese Inspiration ist ihm gelungen! Das biblische Gebot der Nächstenliebe entfaltet der Autor leicht leserlich und mit wissenschaftlichen Fußnoten nicht nur im Horizont der theologischen Ethik und seinem angestammten professionellen Terrain der Diakonie. Er schlägt auch Brücken zur Spiritualität, Liturgie, Interreligiosität und den Sozialwissenschaften. Auf welche Weise? Indem er in einem einseitigen sozialwissenschaftlichen Diskurs die Leerstellen mit theologischer Substanz befüllt und indem er der Nächstenliebe durch den Aspekt des Bittens und Betens einen überraschenden Akzent verleiht. Neugierig geworden? Dann der Reihe nach.
Im Anschluss an das Geleitwort des Präsidenten der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie betont Bartmann in seinem Vorwort, dass es ihm ein Anliegen war, eine diskursfähige Ethik zu entwickeln, die er„auch selbst leben kann“. Dies hängt auch damit zusammen, dass er beruflich nicht in der akademischen Welt zuhause sei, sondern für ihn praktische Lebensfragen im Vordergrund stehen (14). Seiner Einschätzung nach, wurde es im Verlauf des 20. Jh. notwendig, die Bewältigung sozialer Notlagen durch eine „institutionalisierte“ oder „strukturelle“ Nächstenliebe in die öffentliche Verantwortung zu legen. Jedoch würden diakonische und humanitäre Organisationen auf tönernen Füßen stehen, wären sie nicht durch die persönliche Haltung der Nächstenliebe getragen. Damit ist die Stoßrichtung seines Essays markiert.
Im ersten Teil (I) entfaltet Bartmann das Liebesgebot als Ausgangspunkt der Ethik, indem er die zentralen biblischen Elemente, die sich um die Goldene Regel als Inbegriff der Moral ranken, eingängig in Erinnerung ruft, u.a. Selbst- und Nächstenliebe, die Erzählung vom Weltgericht (Mt. 25), das Hohelied der Liebe, den Nahen gegenüber wie auch den Fernen und Feinden.
Im zweiten Teil (II) des Essays erläutert er, warum sich die Liebe auch auf den mir fernen Verwandten und sogar den Fremden erstrecken soll. Den Kern findet er in der Hinwendung zu dem einen Gott. Menschen rufen ihn als Vater an und werden so zu Geschwistern auf Augenhöhe. Dies macht verständlich, wie ein Mensch als gleichrangiges Kind Gottes dem anderen zum Nächsten werden kann. Um einem exkludierenden Monotheismus, der sich gegen konkurrierende Autoritäten abgrenzt, zu entgehen, qualifiziert Bartmann die Hinwendung zu Gott im Bittgebet auf eine besondere Weise. Die Gebetspraxis als Grundbestandteil vieler religiösen Traditionen wird für ihn zu einem spirituellen Fundament der universalen Moral. Dabei steht ihm vor allem das persönliche Gebet „im stillen Kämmerlein“ vor Augen, in dem – der Bergpredigt folgend – die Gottesbeziehung grundgelegt wird. Da es um die Praxis einzelner geht und nur nachrangig um den öffentlichen Gebetsritus, „verlieren die Grenzen und Abgrenzungen, die mit Traditionen immer verbunden sind, an moralischem Gewicht.“ (54)
Dieser Begründungsgang einer universalen Moral im Horizont eines „inklusiven Monotheismus“ muss m.E. im Zeichen fortschreitender Individualisierungsprozesse und ambiger Gebetspraktiken weiter reflektiert werden. Überzeugender scheint mir hingegen Bartmanns Ansatz, von der Bitte im Gebet und im Alltag auszugehen. Der Bitte schreibt er „eine eigentümliche moralische Kraft [zu], die sich vom Zwang und von rechtlichen und vertraglichen Pflichten stark unterscheidet.“ (55)
Im dritten Teil (III) zur „Ethik der Nächstenliebe in der Moderne“ legt Bartmann den Finger in den wunden Punkt aktueller sozialpolitischer und -wissenschaftlicher Diskurse. Diese gehen zurecht vom Imperativ gleicher Anerkennung und von Rechtsansprüchen aus, stoßen jedoch schnell an Grenzen, weil diese Forderung in den alltäglichen Beziehungen nicht erzwungen, sondern nur aus freien Stücken mit Leben gefüllt und realisiert werden könne. Im Unterschied zur Rechtsforderung ist die Bitte von moralischer Relevanz. Sie verpflichtet, ohne zu überwältigen. Sie kann abgelehnt werden, entfaltet aber eine eigentümliche Kraft. Dies illustriert Bartmann an vielen Bitten, die wir – wie uns aus dem Alltag vertraut ist – oft nicht ablehnen können. Pointiert sagt er: „Das höchste Gebot Gottes ist die Forderung, auf die Bitte der Menschen einzugehen“ (109). So votiert er u.a. für den Zusammenhalt von Nächstenliebe und Anerkennung sowie intuitiver und institutionalisierter Nächstenliebe.
Wie weit eine vertiefte Nächstenliebe gehen kann, zeigt Bartmann in der abschließenden „Meditation der Nächstenliebe“ (Teil IV) auf. Sein Essay enthält Inspirationen, die zu individueller, kirchlich-diakonischer und kollektiver Praxis anregen und einem universalen Ethos aus christlicher Perspektive neue Impulse geben.