Mit dem Thema Gewalt und ihre Überwindung in der Bibel befasst sich die umfangreiche Monographie von Günter Scholz. Der Autor wurde 1981 in Göttingen mit einer Arbeit über „Gleichnisaussage und Existenzstruktur. Das Gleichnis in der neueren Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung der christlichen Existenzstruktur in den Gleichnissen des lukanischen Sonderguts“ (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Bd. 214) promoviert und 1991 in Bielfeld mit einer Arbeit über „Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten“, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Religionspädagogik 10) habilitiert. Er forschte und lehrte an den Universitäten Bielefeld und Lüneburg, nahm zuletzt seine frühere pfarramtliche Tätigkeit in Elstorf Krs. Hittfeld/Winsen wieder auf und lebt inzwischen in Magdeburg.
Zur Gliederung: Scholz’ Studie gliedert sich in zwei Teile, Teil 1: Altes Testament (19-472), Teil 2: Neues Testament (473-643) mit je einer Einleitung und einem Fazit. Zu beiden Teilen wird eine Zusammenfassung geboten, die „die Ergebnisse“ des ersten und zweiten Teils „bündelt“ (644-671). Es folgen ein Literaturverzeichnis (672-684) und ein Bibelstellenverzeichnis (685-729).
Teil 1 (AT) gliedert der Verfasser in drei Unterabschnitte: 1) Gott und der Mensch (24-153), 2) Gott und das Volk (154-284) und 3) Gott und die Völkerwelt (285-472). Teil 2 (NT) ist in neun Unterabschnitte gegliedert, die unter dem Aspekt der Gewalt von der „Gottesherrschaft“ (1., 476f), der Bergpredigt bzw. Feldrede Jesu (2.-5., 478-521), dem Evangelium nach Markus (6.-7., 522-583), dem Römerbrief (8., 584-603) und der Offenbarung des Johannes (9., 604-643) handeln.
Im Vorwort (17f) greift Scholz die Kritik an der Gewalt in der Bibel auf. Vor allem im AT seien „Gewalt rechtfertigende und verherrlichende Texte […] nicht zu bestreiten“, und besonders „brisant“ werde es, „wenn Gott selbst aktiv in die Gewalttätigkeit eingebunden“ werde (17). (Anmerkung des Rez.: In der Bibelwissenschaft wurde – angestoßen von außen aus der nichttheologischen Forschung durch den Anthropologen und Literaturwissenschaftler René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg i.Br. 1983 – das Gewaltphänomen seit Anfang der 1980 er Jahre thematisiert, s. vor allem N. Lohfink (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament, QD 96, Freiburg i.Br. 1983; R. Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, München 21986; N. Lohfink/R. Pesch, Weltgestaltung und Gewaltlosigkeit. Ethische Aspekte des Alten und Neuen Testaments in ihrer Einheit und ihrem Gegensatz, ppb 87, Düsseldorf 1978.)
„Die Distanz“ zu solchen Texten ergebe sich „aus der Berücksichtigung der geschichtlichen Situation, speziell des antik-vorderorientalischen Denkens, und aus der Perspektive des neutestamentlichen Friedenskerygmas“ (17). Jedoch greife „der Vorwurf der Gewaltförderung“ zu kurz, da die Bibel auch „Strategien der Gewaltminderung, der Gewaltvermeidung und der Gewaltüberwindung“ entwerfe (17). Den Grund dafür sieht Scholz in einem nicht nur partikular auf Israel, sondern universal auf alle Völker bezogenen Gottesverständnis, dem „Globalkerygma der Bibel“, das der Verfasser literargeschichtlich „herausheben“ und „gelegentlich auch den intra- und intertextuellen Diskussionsprozess aufzeigen“ wolle (17).
Für die Gewaltthematik im Textbereich der Psalmen verweist Scholz auf „gute Bearbeitung“ durch E. Zenger (Ein Gott der Rache?, 1994) sowie durch einen von K. Liess und J. Schnocks herausgegebenen Aufsatzband (2018), weshalb er auf eigene Ausführungen zu den Psalmen verzichtet. Als Anlass und Motivation seiner Studie nennt Scholz die „Friedensdekade 2000-2010“ und die Gespräche in seiner damaligen Kirchengemeinde.
Zum Aufbau seiner Studie: „Der Aufbau erfolgt, um einer schwierigen literaturgeschichtlichen Debatte zu entgehen […], nach systematischen Gesichtspunkten. Datierungen werden nur, wo notwendig und gesichert, vorgenommen“ (22).
Zur Exegese: Den Auftakt zu den Texten aus dem AT gibt Gen. 4,1-16, Kains Brudermord. Wie in allen behandelten Texten fragt Scholz besonders nach dem jeweiligen Gottesbild und den entsprechenden anthropologisch-ethischen „Implikationen“ und reflektiert sie in gesamtbiblischer Sicht. Die „Entwicklung in der Gewaltfrage auf theologischem, anthropologischem und ethischem Gebiet“ lasse sich „ohne eine gesamtbiblische Sicht“ nicht verstehen (644). Das „Gottesbild“ in Gen. 4,1-16 gehöre zum „unverwechselbaren Gesicht“ (des biblischen) Gottes (25): „Gott ist absolute Freiheit“ (24), und der Mensch ist zur Freiheit bestimmt, nicht zur Sünde, über die er verantwortlich herrschen kann und soll; Gen. 4,1-16 entwerfe „eine Ethik auf der Grundlage des vor Gott verantwortlichen Ich, eine theologische Ethik“ und könne „nur in die Richtung eines heilvollen Lebens weisen“ (27-29). Versteht Scholz die Geschichte von Kains Brudermord als hermeneutischen Schlüssel für seine Frage nach der Gewaltüberwindung in der Bibel?
Es schließen sich u.a. an: Exegesen zu Texten aus dem weiteren Bereich der Tora, Gen. 6-9 (Sintflut), Gen. 18-19 (Sodom und Gomorra), Gen. 22 (Isaaks Opferung), Gen. 27-33 (Jakob und Esau), Gen. 32 (Jakobs Kampf am Jabbok), Gen. 37-50 (Joseph), Ex. 4,24-26 (tödliche Bedrohung Moses), Ex. 13-17 (Befreiung Israels aus ägyptischer Knechtschaft), Ex. 21,12-27 (Rechtsordnungen), Dtn. 9 (Einnahme des Landes), 20 (Kriegsgesetze), 31 (Einsetzung Josuas); aus dem Bereich der („vorderen“ und „hinteren“ Propheten: Jos. 5-8, Ri. 3-11, 1. Sam. 15; 17 und 30, Jes. 2-11; 42-53; 56; 60 und 65, Jer. 36, Nahum 1, Sach. 1-14, Jon. 1-4, Obadja, Dan. 1-3; 7f.
In der prophetischen Unheilsverkündigung Jeremias ist nach Auffassung des Verfassers eine „Gewalt-Tätigkeit Gottes“ angesagt (378). Im Unterschied zur „urjesajanische[n] Verkündigung“, die „Ansage des unwiderruflichen Unheils aufgrund des eingetretenen Zu-Spät“, habe „das urjeremianische Kerygma […] die Umkehr noch im Auge; das angedrohte Unheil“ habe „eine pädagogische Funktion“, und dem liege nach Jer. 36,3 „das bekannte ambigue Gottesbild zugrunde: Jahwe gedenkt, Unheil zu tun, aber er möchte letztendlich vergeben (380). „Dieser letztendlichen Offenheit der Zukunft“ entspreche die Ambiguität Gottes, der über seinem Wort wachen will“. Welches Wort gemeint sei, bleibe „in der Schwebe“. Relativiert bzw. mildert Scholz die Unheilsprophetie, indem er sie als göttliche Pädagogik interpretiert (380.382.384)?
Als Ergebnis seiner Durchsicht der Texte des AT ergibt sich für Scholz: „[D]ie Koinzidenz der Gegensätze ist ein Merkmal Gottes“ (468); dafür verwendet der Verfasser den Begriff „Ambiguität“ und führt als Belege z.B. Jes. 54,7 und Jes. 45,6f an, welche (wie Gen. 4,1-16) die „absolute Freiheit Gottes“ beschrieben. Nach Ex. 34,6 koinzidierten in Gott „[s]trafende Gerechtigkeit und heilende Güte“, „wobei überfließende Güte ein heilsames Übergewicht“ schaffe (468). In der Weiterentwicklung der Literatur verstärke sich dieses Übergewicht, „bis schließlich Gottes Offenbarung in Jesus Christus den endgültigen Sieg der Liebe und des Friedens Gottes über seinen Zorn verkündigt“. „Rückfälle auf dieser Linie“ seien nicht ausgeschlossen; als Beispiel nennt Scholz die Propheten Nahum, Joel, Obadja und die Offenbarung des Johannes (468f).
Die Exegesen des Verfassers – sie wollen „in die ,archäologische‘ Tiefe der Texte einsteigen, um […] verschiedene Gottesbilder und Handlungsorientierungen ans Tageslicht zu holen“ (22) – münden in dichte hermeneutische und systematische Reflexionen; ein Beispiel: „Das ambigue Gottesbild ist, abhängig von der jeweiligen historischen und geistesgeschichtlichen Situation, unterschiedlich. Die größtmögliche diachronische Ambiguität besteht zwischen Gott als ,rechtem Kriegsmann‘ und dem ,Gott des Friedens‘, wie er sich seit Deuterojesaja abzeichnet und dann das Neue Testament erfüllt“ (470).
Zur Hermeneutik: In unterschiedlichen Variationen kreisen die hermeneutisch-systematischen Überlegungen des Verfassers um die Beziehung zwischen AT und NT: „Der Weg vom Alten zum Neuen Testament ist – gerade was die Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung anbelangt – gebahnt. Aus den entsprechenden Webfäden wird mehr und mehr ein Teppich der Gewaltlosigkeit und des allumfassenden Friedens, der im Neuen Testament vollendet wird […] Das Gottesbild wird […] schärfer und eindeutiger in Richtung Friedens- und Versöhnungshandeln, entsprechend auch das Bild des neuen Menschen einschließlich der Ethik“ (472).
Die Sichtweise des Verfassers zum Verhältnis zwischen AT und NT erinnert an die hermeneutische Formel „Verheißung“ (AT) und „Erfüllung“ (NT). Sie birgt allerdings die Gefahr, das Eigenwort der Hebräischen Bibel zu relativieren. Der Weg vom AT zum NT ist in traditions-, redaktions-, rezeptions- und (nicht zuletzt) kanongeschichtlicher Hinsicht sehr komplex. Die entwicklungsgeschichtliche Perspektive wird darum dem Verhältnis beider Testamente nur sehr bedingt gerecht. Denn im Kanon des AT und NT sind unterschiedliche Stimmen und Konzepte aufgenommen; sie können „kompatibel“ sein, aber auch unverbunden nebeneinander stehen, sich gegenseitig widersprechen, korrigieren, ergänzen, und sie lassen sich nur schwer systematisieren oder widersetzen sich sogar eine Systematisierung. So gesehen bietet der biblische Kanon des AT und NT mit seiner umfassenden Textfülle voller existenzieller Erfahrungen, Theologie(n), Anthropologie(n) und ethischen Orientierungen ein Forum des offenen Dialogs über elementare Grundfragen des Lebens und die damit essentiell verbundene strittige Gottesfrage.
Das in der Bibel begegnende Thema „Gewalt“ ist seit dem 24. Februar 2022 auch in Europa (wieder) bedrängend aktuell. Meist wird diese Thematik mit dem AT und seinem Gottesbild in Verbindung gebracht, aber es begegnet auch im NT: Sogar der Protagonist Jesus von Nazareth übt nach Darstellung aller vier Evangelien brachiale Gewalt bei der „Tempelreinigung“1 aus.
Gewalt ist ein gesamtbiblisches Thema, es kommt in unterschiedlichen Kontexten vor und wird unterschiedlich reflektiert. Zu wenig beachtet scheint, dass in der Hebräischen Bibel bzw. der Griechischen Bibel (Septuaginta), die wir in der christlichen Tradition seit Mitte des 2. Jh. n. Chr. „Altes Testament“ nennen2, in der Mitte der Tora das Gebot „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ steht und Jesus sich ausdrücklich auf beide Gebote bezieht.3
Es gibt keine einfachen Antworten zu den Gewaltursachen und zur Gewaltüberwindung. Dies lehren die biblischen Texte, die sich dazu äußern, und dies lehrt die Menschheitsgeschichte, dass der Mensch es trotz des nicht erst heute verfügbaren Wissens über die menschliche Psyche, über Aggression und Konfliktstrategien nicht fertigbringt, weltweit in Gerechtigkeit und Frieden zu leben. „Menschen sind komplizierter als Physik“, meinte der renommierte amerikanische Physiker Ed Witten vor kurzem in einem Interview.4 Davon wissen schon die biblischen Texte, auch die darin aufgenommenen und verarbeiteten vorbiblischen Überlieferungen. „Gewaltförderung“, so betont Scholz, sei der Bibel nicht vorzuwerfen: „Die Bibel entwirft auch Strategien der Gewaltminderung, der Gewaltvermeidung und der Gewaltüberwindung“ (17). Ihre diesbezüglichen Texte persönlich in Kirche, Schule5 und Universität zu studieren und sie in das Ringen um Gewaltüberwindung, Gerechtigkeit und Frieden einzubringen, dazu lädt die beachtenswerte und heute besondere Aufmerksamkeit verdienende Monographie von Günter Scholz als ein inspirierendes Lese- und Arbeitsbuch ein.
Anmerkungen
1 Mt. 21,12f, par. Mk. 11,15-19; Lk. 19,45-48; Joh. 2,13-16.
2 2. Kor. 3,6.14; vgl. Jer. 31,31-34.
3 Ex. 20,13, par. Dtn. 5,17; Lev. 19,18; Mt. 5,21f; 22,37-40 par.
4 In: Die ZEIT, 20. Dezember 2023, Nr. 54, 30.
5 Vgl. O. Dangl, Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. Unterrichtserfahrungen mit dem Thema, in: Bibel und Kirche 45 (1990), 80-86.