Mit „Predigt und Exegese im Atelier“ ist den beiden Autorinnen ein Praxisbuch gelungen, das wirklich seinen Namen verdient. Ist es Absicht oder Zufall, dass es fast zeitgleich mit dem neuen Projekt der Deutschen Bibelgesellschaft „Exegese für die Predigt“ (ein digitaler Kommentar für die Predigtvorbereitung) herausgekommen ist? Jedenfalls füllen beide Projekte eine Lücke in der homiletischen Praxis. Das Praxisbuch zeigt, wie inspirierend exegetische Entdeckungen im homiletischen Atelier sein können.
Vom wem dieses Buch ist: Die beiden badischen Pfarrerinnen, Hoffmann und Knittel stammen aus zwei Zünften: Christine Wenona Hoffmann ist Professorin für Praktische Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main, Dr. Ann-Kathrin Knittel ist Gemeindepfarrerin und Lehrbeauftragte für Altes Testament an der Universität Heidelberg.
Mit dem gewählten Buchtitel zeigen sie an, wo ihr Herz schlägt: bei der Predigt als Kunstwerk. Sie wollen die alte, oft verschmähte Liebe zur Exegese dabei mit ins Predigtatelier nehmen. Nach einem langen emanzipatorischen Befreiungsprozess vom Diktat der Exegese, die die Predigt zum reinen „Übersetzungsakt“ verkommen ließ, ist die Zeit für ein neues Kapitel gekommen in der „Geschichte einer großen Liebe“ zwischen Predigt und Exegese. Die beiden Autorinnen verstehen ihr Praxisbuch als ein „Farbangebot auf dieser Palette“ der neueren exegetisch-homiletischen Annäherung. Gerd Theißen preist in seinem Nachwort das Werk der beiden Nachwuchswissenschaftlerinnen als „Partnertherapie an, damit zwei theologische Disziplinen wieder zueinander finden können.“
Die homiletische Verortung in der „dramaturgischen Homiletik“ zeigt sich an den zahlreichen (eigenen) Predigtbeispielen, an der Lust an Sprache, an den Zitaten über jedem Kapitel, an den eingefügten Abbildungen zeitgenössischer Kunst, aber auch an der methodischen Gestaltung des Buchs, das an die ausgefeilte Didaktik von Nicol/Deeg, aber auch eines Gerd Theißen erinnert.
Was mich begeistert an dem Buch: Man kann es (wie ich) von hinten lesen und findet ein ausführliches „Register der Inspiration“ das alle Schritte der Exegese benennt und das Vorgehen in immer gleicher Abfolge skizziert: Worum geht’s? Wie wird’s gemacht? Was wird daraus? Skizzen aus der Praxis: Verarbeitung der exegetischen Entdeckungen.
Man kann sich aber auch inspirieren lassen vom Inhaltsverzeichnis, in dem sich klangvolle Überschriften mit den alten Namen der exegetischen Methodenbezeichnungen verbinden: „Die Formen aufräumen“ nennen die beiden die sprachliche Analyse, und die Überschrift „Gemäldebeschriftung“ macht Lust auf das, was sich hinter dem angestaubten Namen „Traditionsgeschichte“ verbirgt.
Man kann es ganz strukturiert von vorne nach hinten lesen und wird durch Infokästen und Piktogramme gut durch die Kapitel geführt: So finden sich neben Hör- und Schreibimpulsen für Einzelne auch Übungen für Gruppen, die zum Dialog anregen. Die Legende an sich ist beachtenswert: so verweist z.B. das Computer-Bildzeichen auf digitale Tools und das Herz-Piktogramm auf Übungen, die Herz und Seele einbeziehen.
Man kann nur das Bibelstellenregister aufschlagen und nach den Seiten suchen, die die nächste Sonntagspredigt betreffen. Daran erweist es sich ein weiteres Mal als echtes Praxisbuch: Alle Predigtbeispiele beziehen sich auf die Texte der aktuellen Perikopenordnung.
Man kann auch nur die Seiten mit der aktuellen Auswahl an analogen und digitalen Hilfsmitteln aufschlagen. Dass es Literaturempfehlungen enthält, ist fast selbstverständlich, nicht aber, dass hier auch an Menschen ohne (oder mit vergessenen) Hebräisch- und Griechischkenntnissen gedacht wird!
Für wen dieses Buch ist: Für Predigtprofis, aber auch Ehrenamtliche ohne Studium lohnt es sich gleichermaßen. Für alle, deren NT und AT Pro- und Hauptseminare schon länger her ist. Für alle, die sich der „alten Liebe“ Exegese wieder nähern wollen und sich schon immer gefragt haben, wie das fürs Predigen hilft, ohne eine Vorlesung von der Kanzel zu halten. Für alle, die exegetisch inspirierte Predigtbeispiele suchen, an denen man sehen kann, wie das „Kunststück“ gelingen kann. Für alle in der Aus-, Fort- und Weiterbildung Tätigen, die anderen Menschen Lust am exegetischen und homiletischen Handwerk machen wollen. Hier findet sich ein wahres Feuerwerk an kreativen Methoden und Ideen.
Was man damit machen kann: Man kann das Praxisbuch von vorn bis hinten durcharbeiten und fühlt sich danach wieder jung und inspiriert wie zu Studienzeiten. Man kann es in Auswahl oder nach und nach im kollegialen Kreis besprechen und dann digital oder analog abwechselnd die nächsten Predigten gemeinsam vorbereiten: exegetisch fundiert und kreativ lustvoll. Man kann damit in der Gemeinde neue Wege des Bibellesens oder Predigtgesprächs gehen: Übungen für Konfi-Gruppen finden sich ebenso wie Anregungen für einen Bibelgesprächskreis. Oder man kann eine Fortbildung mit den beiden Autorinnen besuchen und drei Tage unter Anleitung ins Atelier gehen, wo Exegese und Predigt sich treffen. (Exegetisch inspiriert predigen. Zwischen Farbpalette, Textkritik und Kanzel; vom 10.-12. Juli 2024 in Rothenburg o.T., Anmeldung über das Gottesdienstinstitut der ELKB)
Sabine Meister