Wie leben wir die Seligpreisungen?
Der große Eröffnungsbogen der Bergpredigt
Den Seligpreisungen zu folgen, wenn sie vorgelesen werden, ist nicht so einfach, es braucht einen Zugang zur Grundaussage, die im Folgenden, der Bergpredigt selbst, entfaltet wird.
Stellen wir uns einen Moment einen gemauerten Torbogen vor, in dem das „Selig“ den Schlussstein bildet. Rechts und links davon je vier Steine mit einer Seligpreisung. Der jeweils vierte und letzte Stein (in der Architektur das sog. Widerlager, das die nach außen drückenden Kräfte des Bogens abfängt) spricht von der Gerechtigkeit.
Anders als die lk. Fassung hat Mt. keine den Seligpreisungen entsprechenden Weherufe, und auch die Seligpreisungen denken einer etwas anderen Spur nach. Wo bei Lk. die Warnung vor dem gedanken- und verantwortungslosen Gebrauch und dem Genuss des Wohlstands Thema ist, versucht Mt. die aktuelle Erfahrung von Armut, Unterdrückung, Friedlosigkeit, Unruhe zusammenzudenken mit dem schon angebrochenen Himmelreich. Wir haben es hier weniger mit einer Warnung an die Reichen zu tun, als mit einer Ermutigung für die von Not und Unrecht Betroffenen.
Ermutigungen
Diese Ermutigung findet auf zwei Linien statt. Grundsätzlich gilt: Das Glück, die Seligkeit, liegt nicht in der bedrängenden Situation selbst. Das Lob der Armut kann nur singen, wer die Wahl hat. „Weniger ist mehr“ ist ein Wohlstandsslogan. Aber dem Leiden steht die Verheißung gegenüber, dass Gott selbst in diese Situation etwas hineinlegt, das den Namen „selig“ verdient. Dies ist keine Folge der Not, sondern Geschenk Gottes. Selig die Leidenden, denn sie werden in ihrem Leid gesehen und getröstet.
Eine weitere Linie ist die Ermutigung dazu, sich dem Unrecht, dem Unfrieden, der Bedrückung nicht mit zerstörerischen Kräften entgegenzustellen: seliggepriesen werden die Barmherzigen, die Friedensstifter, die Sanftmütigen, diejenigen, die reinen Herzens sind.
Gerechtigkeit
Was kann aus der Fülle der anklingenden Themen am Reformationstag zur Sprache kommen? Nahe legt sich m.E. das Stichwort Gerechtigkeit, das ja zweimal auftaucht und einen prominenten Platz hat. Was ist Gerechtigkeit? Aus der Menge der theologischen Abhandlungen in 2000 Jahren Kirchengeschichte zwei einfache Gedanken: zum einen, ganz praktisch, fehlende Gerechtigkeit sichtbar im Ungleichgewicht in den zur Verfügung stehenden Lebensgrundlagen und in der gewaltförmigen Beherrschung von Einzelnen und Völkern. Das entsprach der alltäglichen Realität im durch die Römer besetzten Palästina mit seinem starken Gefälle zwischen Arm und Reich zur Zeit Jesu und zur Zeit der Abfassung von Mt. und auch Lk.
Hunger und Durst nach konkreter Gerechtigkeit hat auch heute viele Gesichter, innerhalb einer Stadt, innerhalb eines Landes, zwischen den Geschlechtern, zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, Hautfarbe, Religion etc. Auch der globalisierte Handel führt zu massiven Ungerechtigkeiten, und jede Krise vertieft die Kluft. Auch wenn bei Mt. das „arm“ mit dem Zusatz „im Geist“ versehen ist, darf Armut nicht verharmlost werden.
Zum zweiten kann und soll Gerechtigkeit auch geistlich verstanden werden. Ich denke dabei nicht an die paulinische Versöhnungstheologie, sondern an die Gerechtigkeit des Reiches Gottes (Himmelreich). Wie ist unser Leben im eigenen sozialen und politischen Umfeld in Einklang zu bringen mit den Grundlinien des Reiches Gottes, wie es in der Verkündigung Jesu beschrieben ist? Wie leben wir die Seligpreisungen? Was davon leben wir, was wird in welchem Kontext konkret?
Es ist die Frage an Menschen, die mit den Gedanken Gottes leben wollen: Wie lebe ich die eigenen Erfahrungen von Mangel, Unrecht, Unfrieden im Geist des Reiches Gottes? Wo finde ich Trost, wie kann ich reagieren ohne zu eskalieren? Und wie kann ich im Geist Gottes dem Un-Frieden, der Un-Gerechtigkeit, der Un-Ruhe, der Un-Barmherzigkeit, die ich wahrnehme, begegnen?
Ich weiß nicht, ob „man mit der Bergpredigt Politik machen kann“ – aber es bleibt die Frage: Wie leben wir konkret mit den Seligpreisungen? Wie kann die Gerechtigkeit des Reiches Gottes Gestalt gewinnen im Hier und Jetzt?
Lieder
EG 651 (Württ.) „Selig seid ihr“
„Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht“
Dörte Kraft
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2023