Musik als Medium und Gleichnis
Disharmonien
Passend zum Sonntag Kantate ein Text, der mit Musik zu tun hat. Freilich geht es darin nicht nur harmonisch zu. Der Geist Gottes ist von Saul gewichen. Dabei war noch gar nicht lange zuvor, 1. Sam. 10,6+10, erzählt worden, wie er über Saul gekommen ist. Konnte sich Gott so vertun? Oder widerspricht er sich selber? Stattdessen befällt den König immer wieder ein böser Geist, egal ob depressive Episoden, unkontrollierte Aggressionen oder eine andere seelische Störung.
Dann kann der junge David mit seinem Saitenspiel helfen. Doch hier tut sich schon die nächste Disharmonie auf. David gelangt so an den Hof. Er ist bereits von Samuel zum Nachfolger auf dem Thron gesalbt, wovon Saul aber nichts weiß. Wird der inzwischen verworfene König hier nicht auch regelrecht in seiner Lage hintergangen, ja ausgetrickst?
Schließlich: schon die ganze Einrichtung des Königtums in Israel wurde in 1. Sam. 8ff widersprüchlich dargestellt. Einmal wird sie äußerst „könig(tums)kritisch“ als Abfall von Gott erzählt, das andere Mal sehr „könig(tums)freundlich“ – am Ende wird ein Fest mit Dankopfern gefeiert. Beide Erzählungsstränge prallen aufeinander, ohne dass im biblischen Bericht ihr Konflikt geglättet wird. Nur eines hält sie zusammen: Beide finden „vor Gott“ statt, ja werden ausdrücklich „vor Gott“ gestellt, wie es 1. Sam. 10,19+25; 11,15 jeweils heißt. Was bleibt angesichts dieser Disharmonien aber noch von Davids Musik und ihrer beruhigenden, um nicht zu sagen therapeutischen Wirkung auf Saul?
Musik kann Gegensätze entschärfen
Musik kann über manche sonst kaum lösbaren Widersprüche ein Stückweit hinweg tragen. Es ist, als vermöge sie, diese in sich zu ertragen, ohne dabei verstummen müssen. Musik kann diese Gegensätze auch entschärfen. Am vergangenen Silvestertag berichtete der WDR von einem landwirtschaftlichen Betrieb, wo man für die Tiere in der Nacht in den Ställen Musik einspielte, um sie vor dem Schrecken zu schützen, den Böller und Feuerwerkskörper in ihnen auslösen. Hier vergnügen sich Leute mit lauter Knallerei, woanders erschrickt das Lebewesen panisch – die Musik vermochte immerhin, diesen Kontrast zu dämpfen.
Musik wird auch heute noch therapeutisch eingesetzt und vermag, Zugänge zu finden, die anders kaum zu erreichen sind. Wahrscheinlich erinnern sich die meisten Menschen an Situationen, in denen sie ihnen über schwere Momente hinweggeholfen hat. Jedoch: keine Musik bietet glatte Lösungen für die Konflikte und unlösbaren Widersprüche in unserem Leben. Auch Sauls Krankheit und Geschichte wird von Davids Musik nicht geheilt. Aber Musik vermag immerhin Harmonien und Disharmonien zusammenzuhalten. Sie verstummt nicht, auch dann nicht, wenn etwas uns innerlich zu zerreißen droht und unsere Sprache schon nicht mehr zu geordneter Rede trägt, um das auszudrücken.
Nachösterliche Musik
Davids Musik und Saitenspiel begegnet uns in den biblischen Psalmen wieder. Diese Psalmen gehen durch alle Lagen: durch Klage und Trauer; durch Hader mit Menschen und sogar mit Gott; durch Freude und Jubel; durch Urvertrauen und Danksagung. Auch hier gilt: das Einzige, was diese Konfliktgeschichten des Lebens mit ihren teilweise unlösbaren Widersprüchen miteinander verbindet, ist, dass sie bewusst vor Gott gestellt werden.
In der nachösterlichen Zeit legt es sich nahe, das auf dem Hintergrund zu predigen, den das Evangelium von Karfreitag und Ostern vorgibt. Einen Gekreuzigten mit dem Erstgeborenen von den Toten zu verbinden, vermag nur Gott. Mitten in diesem – für uns völlig unlösbaren Konflikt und Widerspruch – tut sich ein Weg für unser Leben auf. Es ist kein Weg, der uns unlösbare Konflikte und Widersprüche abnimmt oder sie gar löst. Aber eine feste Gewissheit wird uns tragen, wenn wir unseren Weg mit Blick auf diesen „Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Hebr. 12,2) gehen und ihn somit vor Gott stellen. Wir können dann bereit werden, mit allem, was wir auf diesem Weg entscheiden oder tun, erfahren oder erleiden, einmal gemeinsam mit aller Kreatur vor Gott zu treten – auch mit allem, was wir an Konflikten und Widersprüchen nicht zu lösen vermochten. Musik kann uns dafür zum Gleichnis werden.
Johannes Gerrit Funke
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023