Übergänge
I
Am Sonntag Quasimodogeniti stehen wir mit den Jüngern am Übergang von Kreuzigung, verbunden mit dem nächtlichen Ringen mit Gott in Gethsemane und den österlichen Ereignissen hin zu den nachösterlichen Erlebnissen. Das Erschrecken der Jüngerinnen und Jünger wechselt sich mit Staunen ab. Noch ringen sie um ein tieferes Verständnis des Nichtverstehbaren. Dieses Ringen wird nicht ohne Blessuren bleiben für ihr und unser Bild vom Messias Jesus.
Auch Jakob steht an einem Übergang verbunden mit einem Ringen, das an ihm irreversible Spuren hinterlässt und ihm zugleich ein neues Leben ermöglicht.
Zweimal in sechs Jahren bietet sich die Chance, die wunderbare Jakobsgeschichte in die Erinnerung der Predigthörer*innen zu rufen: Gen. 28 (14. So. n. Trin. I) und eben unser Text in Reihe V. Mit wechselnden Schwerpunkten (Linsengericht, Erstgeburtssegen, Laban/Rahel/Lea, Jabbok, Versöhnung mit Esau, Dina und die Josefserzählung) bietet es sich an, sie in der Predigt zu erzählen. Denn von großer Vertrautheit mit der Geschichte ist bei vielen Gottesdienstbesucher*innen nicht (mehr) auszugehen. Bei den Konfirmand*innen wird sie weitgehend unbekannt sein.
Den Hörer*innen begegnet im Jakobszyklus eine Familiengeschichte um Streit und Versöhnung, um Schuld und Sühne, um Erbe und Nachfolge, um Erwählung und Verstoßung. Gott ergreift Partei und lässt doch den betrogenen Bruder nicht im Regen stehen. Die familiären Erfahrungen der Hörer*innen können daran vielfältig mit ihren Erfahrungen anknüpfen.
II
In Gen. 32 steht der Umgang mit Schuld zwischen Familienmitgliedern (Jakob und Esau) und Völkern (Israel und Edom) im Fokus.
Am Jabbok erreicht Jakob seinen „point of no return”. Das hebräische „awar“ bezeichnet bedeutungsvolle „Übergänge“: es findet sich am Schilfmeer, am Jordan und im Exil. 20 Jahre lang war er vor seinem wutschnaubenden Bruder und seinem eigenen schlechten Gewissen davongelaufen. Nun steht die unvermeidliche Begegnung mit Esau bevor. Jakobs Tross hat die Furt schon überschritten, als Jakob (warum?) noch einmal zurückgeht. Was er befürchtet, hat er bereits in V. 12 „im ersten Gebet, das jemand für sich selbst an Gott richtete“ (B. Jaocb) formuliert: „Rette mich aus der Hand meines Bruders. Ich habe Angst dass er […] mich erschlägt […]“. Was folgt ist ein nächtliches Ringen, bis in die hebräischen Buchstaben hinein: aijin, beth und kuf in Jakob, Jabbok, ringen und ausrenken.
Doch wer ringt mit Jakob? Ein Flussgott, Nachtdämon, Kobold, fremder Gott oder gar der Gott Israels? „Elohim“ kann aber auch „Engel“ heißen und diese Deutung, die B. Jacob im Rückgriff auf die rabbinische Bibelauslegung favorisiert, hat viel für sich. Der nächtliche Kämpfer steht in der Reihe mit dem Engel, der den Hiob schlägt, der sich Bileam in den Weg stellt, der Abraham versucht: es war der Engel Esaus.
Im himmlischen Rat Gottes, hat jede Position eine Stimme, auch die des betrogenen Esaus. Und dieser Engel klagte den Frevel Jakobs an, dass er den Segen stahl, dass er den Bruder betrog. Er zog mit Jakob mit, zu Laban, in sein neues Leben. Dieser Engel begleitete ihn immer, mahnend, erinnernd.
In diesem Engel begleitet Jakob die eigene Schuld am Bruder, die ihm am Jabbok in dieser Nacht entgegentritt. Im Kampf mit dem Engel streitet er gegen seine eigene Vergangenheit. Die Schuld kann ihn nicht überwinden. Aber auch er kann die Schuld nicht überwinden. So ringen sie bis zum Morgen.
III
Jakob ließ sich berühren durch diese Begegnung. Diese Berührung hinterließ an ihm Spuren, die nicht mehr rückgängig zu machen waren. Sie haben ihn verändert. Jakobs Tat gegen Esau ist damit weder gerechtfertigt noch gesühnt. Nur Esau kann sie vergeben. Aber Jakob verlässt den Schauplatz mit einem signum, was sowohl als „Zeichen“, als auch als „Segen“ verstanden werden kann.
Als so ein Gezeichneter, hinkend und humpelnd, zieht er der aufgehenden Sonne entgegen, österlich, nicht triumphal, zum Treffen mit dem furchteinflößenden Bruder und dessen 400 grimmigen Mann. Als so Geschlagener wirft sich der lädierte Jakob vor seinem Bruder in den Staub. Durch diesen jämmerlichen Anblick verfliegt der Zorn Esaus: Soll das der einst so behände, vielgewandte Jakob sein? Diese Gestalt entwaffnet ihn.
So hat Gott den Jakob errettet, indem er ihn noch schwächer machte. Der Übergang (awar) macht Jakob zu einem neuen Menschen. Versöhnt mit dem Bruder kann er den alten, zwielichtigen Namen ablegen und zum „Gottesstreiter“ werden. In diesem Vers erscheint „Jisra-el“ zum ersten Mal auf der Bildfläche.
Liturgische Gestaltung
Ps. 116,1-9.13 (findet sich so nicht in allen Ausgaben des EG)
EG 365 „Von Gott will ich nicht lassen“
„Geh mit Gott, es ist früh am Morgen“ („Wo wir dich loben“, 138)
EG 117 „Der schöne Ostertag“ (Wochenlied)
„Der Herr segne dich, behüte dich, lasse sein Angesicht leuchten über dir“ („Wo wir dich loben“, 118)
Literatur
Benno Jacob: Das Buch Genesis, Nachdruck der Originals-Ausgabe Berlin 1934/Stuttgart 2000, 637-644
Daniel Krochmalnik: „Bruder Jakob“ in: Studium in Israel (Hg.), Predigmeditationen im christlich-jüdischen Kontext Plus. Zur Perikopenreihe 5, Berlin 2022
Evelina Volkmann: „Quasimodogeniti“, ebd.
Matthias Wanzeck
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023