Präludium
Es gab schon bessere Zeiten für das Singen von Lobliedern. Könnte man meinen: Ein fröhliches Lied, um den Schöpfer zu preisen und das Leben zu feiern, wirkt schnell deplatziert, wenn die Nachrichten bestehen aus einer Mischung von gefährlichen Absurditäten (Trump will Grönland), verstörenden Einsichten (Europa muss aufrüsten) und all den finsteren Katastrophen zwischen Krieg, Klimawandel und dem Abwehrkampf der Demokratie.
Der Rhythmus des Kirchenjahres lässt sich davon nicht beirren, stört die Problem-Trance, lenkt den Blick auf Zusammenhänge, die sonst schnell verschüttgehen können. Die Zeiten mögen sein wie sie wollen – an Kantate wird gesungen! Fragt sich nur was, wie – und mit welcher Perspektive.
Eine Möglichkeit führt uns Bertolt Brecht in den Svendborger Gedichten (Bertolt Brecht: Werke XII., Berlin und Frankfurt 1989) vor. Ebenso illusionsfrei wie präzise bemerkt er:
In den finsteren Zeiten
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.
Wer dem zu-stimmt und dabei ein-stimmt, hat die Realität auf seiner Seite und vermutlich die Mächtigen schnell gegen sich. Die Frage ist nur – zumal im Klangfeld des christlichen Glaubens am Sonntag Kantate –, ob das ausreicht. Ob es nicht doch mehr als alles geben könnte, mehr als das, was vor Augen ist und die Nachrichten bestimmt. Ob sich davon singen lässt. Und was dann geschieht.
Hildegard von Bingens wählt 800 Jahre vor Brecht einen anderen Zugang (Näheres in der Masterarbeit von Martina Spies-Gehrig: Musik und Heilung bei Hildegard von Bingen. Ihre Bedeutung für die Musiktherapie, Frankfurt 2013):
„In der Musik hat Gott den Menschen die Erinnerung an das verlorene Paradies hinterlassen.“
Die mittelalterliche Mystikerin bietet mit diesem simplen Satz eine theologisch unmittelbar einleuchtende Deutung der Erfahrung, die Sängerinnen und Sänger immer wieder machen dürfen: Dem Singen, zumal gemeinsam mit anderen Menschen, wohnt eine Kraft inne, die über Melodie, Harmonie und Rhythmus hinausgeht und genau die Transzendenz ins Spiel bringt, von der Brecht nichts wissen will. Die Kraft des Singens speist sich aus dem Heil der Vergangenheit und der Hoffnung auf den Segen der Zukunft. Und diese bekräftigende Transzendenzerfahrung aus Musik könnte den Schlüssel dazu bieten, die Finsternis der Welt nicht bestätigend nur zu beklagen, sondern gegen sie anzusingen.
Cantus Firmus
Genau auf dieser Spur sind Paulus und Silas in unserem Predigttext unterwegs (einen Überblick über die relevante exegetische Diskussion bietet Harald Schroeder-Wittke in GPM 79/2, 267ff):
Die individuelle Situation der beiden Apostel ist mindestens so finster wie die heutige Nachrichtenlage und deren Einfluss auf die kollektive Psyche. Außerdem ist es um sie herum auch ganz wörtlich finster: Die hinterste Zelle (so übersetzt die Basisbibel in V. 24) dürfte ein dunkles Loch gewesen sein, und die Aussichten für die gefolterten und zu Unrecht weggesperrten Männer sind schlecht: Wer den Mächtigen durch unerschrockenes Handeln das Geschäft verdirbt, kann kaum mit Gnade rechnen.
In dieser Lage agieren die beiden Missionare auf paradoxe Weise: Sie klagen nicht. Sie hadern nicht. Sie loben Gott getrost mit Singen. Sie trauen auf die Kraft der Musik, die innere und äußere Mauern zum Einsturz bringen kann: „In wieviel Not/hat nicht der gnädige Gott/über dir Flügel gebreitet (Joachim Neander, EG 317,3). Sie singen und beten förmlich ihre eigene Rettung herbei. Und die kommt in Form eines Erdbebens, wie es sie im Grenzgebiet von Makedonien und Thrakien, wo Philippi liegt, bis heute gibt.
Die Loblieder der beiden scheinen ihre Resonanz bei den Mitgefangenen gefunden zu haben. Denn diese hören nicht nur zu (V. 25), sondern lassen auch die Chance, im Chaos des Bebens zu fliehen, ungenutzt. Singen kann also nicht nur äußere Erschütterungen mit sich bringen oder zumindest deuten, sondern Menschen auch innerlich verändern. Aus Sängern und Hörern wird so eine Gemeinschaft, für die Paulus stellvertretend sagen kann: „Wir sind alle noch hier“ (V. 28). Mehr noch: Selbst der Gefängniswärter (und später auch noch seine Hausgemeinschaft) wird Teil der musikalisch begründeten christlichen Gemeinschaft; seine Suizidgedanken sind Vergangenheit, er nimmt sich mit Udo Lindenberg gesprochen das Leben und lässt es nie mehr los (Lindenberg, Das Leben (2011), https://www.youtube.com/watch?v=jvxqzBeUj-w).
Reprise
Was also singen an Kantate, wie und mit welcher Perspektive?
Auf der Spur des Predigttextes müssen es Loblieder sein, gerade jetzt. Aus vollem Herzen gesungen, in einer Gemeinschaft, die durch das Singen wächst, die herbeisingt, worauf sie hofft: Befreiung. Hoffnung. Segen. Singen von Gott ist angesagt, von dem Gott, der in der mythischen Vergangenheit schon gehandelt hat, der sich in der Musik finden lässt und der mit der Musik in finsteren Zeiten von der hellen Zukunft erzählt. Paulus und Silas haben es vorgemacht.
Lieder:
EG 317 „Lobe den Herren“
EG 628 (Baden) „Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe…“ (fast eine Paraphrase unseres Textes!)
EG (Anhang Baden) 68 „Lobe den Herrn, meine Seele“
EG 302 „Du, meine Seele, singe“
Steffen Groß