Der Predigttext
Proverbien 8,22-36 für den diesjährigen Sonntag Jubilate feiert Gottes Schöpfung in höchsten Tönen. Er bildet neben den beiden wohl bekannteren Aussagen zur Schöpfung, Gen. 1-2 und Ps. 104, den dritten längeren Schöpfungstext des AT. Auch wenn Prov. 8 eine reiche wissenschaftliche Wirkungsgeschichte entfaltet hat, steht seine Popularität den beiden anderen Schöpfungstexten ein wenig nach, vielleicht deswegen, weil sich einerseits sein Lobpreis ausschließlich auf die Großgeschöpfe Himmel, Erde, Wasser und Luft als natürliche Umgebung konzentriert, während Flora und Fauna nicht erwähnt werden, und weil andererseits zum Teil ungewöhnliche Bilder und Motive verwendet werden. So oder so lädt das Lied über Gottes wunderbare Schöpfung zum Mitfeiern ein.
Exegetische Annäherung
Die Verse des Predigttextes bilden zwei Unterabschnitte, die ihrerseits das Weisheitsgedicht von Prov. 8,1ff fortsetzen und abschließen. Nach dem Lobpreis in 8,22-31 folgt eine Mahnung zur Anwendung der vorher entfalteten Weisheitslehre in 8,32-36, eingeleitet mit dem Aufmerksamkeitsruf „so höret nun“. In diesem Zusammenhang wird die Weisheit zunächst als erstes Geschöpf Gottes vorgestellt (V. 22-26); im Fortgang berichtet die personifizierte Weisheit von sich selbst, dass sie bei der Schöpfung Gottes mit anwesend und sogar aktiv beteiligt war (V. 27-31). Das Bild der geschaffenen Erde in der Einteilung der Welt in Erdkreis, Meer, Unterwelt und Himmel entspricht dabei dem altorientalischen Modell vom Aufbau der Welt. Die Welt ruht als Weltscheibe auf dem Urmeer auf, das als Ozean vom Festland abgegrenzt ist. Das Festland, unter dem die Unterwelt als Welt der Toten gedacht ist, ist mit Säulen im Untergrund verankert, während sich über dem Festland das Firmament des Himmels wölbt.
Nach der Übersetzung Martin Luthers ist die Weisheit als „Liebling“ Gottes (V. 30) gekennzeichnet, in Anlehnung an die Septuaginta. Der hebräische Text spricht dagegen vom „Werkmeister“ oder „Handwerker“. Die folgende Angabe, dass die Weisheit „frohlockend“ ist und „ihre Freude … an den Menschen“ hat (so die treffende Übersetzung von Mage SæbØ, Sprüche, ATD 16,1, Göttingen 2012, 118), bringt die Freude über die Schöpfung zum Ausdruck. Sie nimmt demgegenüber den sexuellen Anstrich, den man hinter der Lutherübersetzung („Liebling“, „Lust“, „spielen“ mit bzw. an den Menschen) hören könnte. Wenn am Ende der aufgezählten Schöpfungswerke die Menschen stehen, so sind wohl Flora und Fauna wie auch die Menschen als Teil der Schöpfung mitzuhören. Der Blick der Weisheit auf die Gesamtheit der Schöpfung löst bei ihr Freude an den Werken und Lob Gottes aus.
In der folgenden Mahnung ruft die personifizierte Weisheit selbst zum Befolgen der Regeln der Weisheit auf. Theologisch knüpft dies an den weisheitlichen Leitsatz an: die Weisheit ist der Anfang der Gottesfurcht, mit Rückgriff auf Prov. 1,7 und 9,10. Die Regeln der Weisheit zu befolgen, ist nicht nur eine ethische Maxime, wie sie von der Weisheitslehre immer wieder eingeschärft wird, sondern dient auch dem Leben insgesamt (vgl. Prov. 8,35 und 19,23: das Finden der Weisheit und die Furcht Gottes führen zum Leben). Im Umkehrschluss drohen Untergang und Tod bei Missachtung der Weisheit.
Das Motiv der Weisheit, wie sie in den atl. Weisheitsschriften begegnet, schildert eine selbstständig wirkende Figur, die als weibliche Begleitung in der Nähe Jahwes agiert. Sie verbindet Himmel und Erde und kann aus dieser Position heraus die Menschen zu einem gottgefälligen Leben in Recht und Gerechtigkeit anleiten und anhalten. Das Befolgen der Weisheitsregeln realisiert die Gerechtigkeit als Weltordnung und damit das gute Werk Gottes, das er mit der Schöpfung vollbracht hat. Dafür lobt die Weisheit Gott und feiert seine Schöpfung.
Mit der Weisheit auf dem Weg zur Predigt
Um die Motive aus Prov. 8 für mitteleuropäische Gottesdienstbesuchende verständlich zu machen und aus ihrem abständigen Weltbild in die gegenwärtige Lebenswirklichkeit zu transferieren, wird es einige Erläuterungen benötigen. Ob dafür die begrenzte Zeit einer Predigt ausreicht, mag zumindest gefragt werden. Die Antwort wird davon abhängen, wie tief man in den Predigttext eindringen will.
Eine mögliche Spur für einen Predigtansatz mag sich aus einem Blick in die Rezeptionsgeschichte ergeben. Seit der frühchristlichen Zeit ist die Weisheit mit der Kirche identifiziert worden, wo sie eine Mittlerposition zwischen Christus und den Menschen einnimmt. Dabei wurde gelegentlich auch ihre Erscheinungsweise als weiblicher Charakter in ihrer Position neben Gott hervorgehoben. Als weibliche Gestalt bietet sie den Menschen noch mal andere Zugangsweisen zur himmlischen Welt an, um Gott und Christus nahe zu sein.
Eine andere Zugangsweise zur Predigt blickt auf die Schöpfung, einerseits mit einem kritischen und anderseits mit einem lobenden Blick. Die Einsicht darin, wie weit die Welt von Gottes Plan einer anfänglichen perfekten Gestalt und intendierten gerechten Weltordnung weggekommen ist, stellt sich schnell ein. Beispiele dafür lassen sich sowohl aus sozialen wie ethischen Überlegungen als auch zum Thema Umweltschutz und Gefährdung von Lebensräumen hinreichend finden. Dass ein derartiger Umgang mit der Schöpfung, der nach der atl. Weisheitslehre als „töricht“ bezeichnet werden würde, Untergangstendenzen nach sich zieht – wie man sie etwa am Artensterben oder an Vernichtung von Lebensräumen ablesen kann –, mag auf dem Hintergrund einer solchen weisheitlichen Deutung nicht verwundern.
Wenn man nicht den Finger auf die Kritik am Umgang mit ihr legen will, könnte die Schöpfung dann aber doch für ihre Pracht und Ordnung gefeiert werden. Es könnte alles so schön sein – in Gottes wunderbar geschaffener Welt. Das Lob auf Gottes Schöpfung in ihrer ursprünglichen Gestalt könnte an diesem Sonntag hochgehalten werden.Das würde dann dem Proprium des Sonntags Jubilate mit seinem Leitbild der „neuen Schöpfung“ entsprechen. Und so könnte mit der Weisheit zum Lob auf Berge und Meer eingeladen werden, in denen die Menschen zur Freude Gottes leben. Beglückende Bilder vom Aufblühen der Natur im Frühjahr stellen sich dabei fast wie von selbst ein.
Lieder
Liedvorschläge, die die Schöpfung feiern: „Jeden Morgen (gießt du)“ (in: Das Liederbuch. Lieder zwischen Himmel und Erde, Nr. 434); „Wenn das Brot, das wir teilen“ (a.a.O. Nr. 290); „In Gottes Garten ackern wir“ (a.a.O. Nr.346); „Herr, ich sehe deine Welt“ (a.a.O. Nr. 177); „Ich hab das Leben lieb“ (a.a.O. Nr. 357).
Antje Labahn