Verlorenes Terrain
In diesem Jahr haben wir zum ersten Mal das Lernpensum unserer Konfirmanden von vier auf zwei Texte reduziert. Ps. 23 mit dem Bild vom „guten Hirten“ gehört zu den Texten, die rausgefallen sind. An die Stelle der leidigen Auswendiglernerei tritt bei uns die Mithilfe bei der Jugend-Musiknacht mit Buffet und Zelten. Praktischer Gemeindedienst statt Plackerei. Die Entscheidung für diese Änderung fiel schnell im Kirchenvorstand. Denn schon seit langem stellen wir fest, dass das Bild des „guten Hirten“ seine Tragkraft für heutiges Christsein weitgehend verloren hat, und das nicht nur bei jungen Menschen. Widerwillig wurde der Psalm auswendig gelernt und war direkt nach dem Aufsagen schon wieder vergessen.
Bestandsaufnahme interaktiv
Unser Gottesdienst heute ist eine Bestandsaufnahme. Welche Gottesbilder kennen wir noch aus der Bibel oder dem weiteren religiösen Kontext? Und: Haben wir überhaupt noch so etwas wie Gottesbilder? Jeder Gottesdienstbesucher ist eingeladen, sich mit seinem Sitznachbarn zunächst einmal über diese Frage auszutauschen. Hiernach haben alle die Möglichkeit, auf vorher ausgeteilten Zetteln ihre Bilder von Gott zu notieren und das Blatt nach vorne zu bringen.
Die Notizen der Teilnehmer sind ertragreich. Hier einige Ergebnisse und meine Erläuterung:
„Gott ist im Himmel“: Wir rekapitulieren das Vater Unser
„Gott ist wie ein Vater“: Wir rekapitulieren das Glaubensbekenntnis
„Gott ist wie eine Mutter“: Wie uns eine Mutter tröstet, tröstet uns Gott (Jes. 66,13)
„Gott ist König / Herrscher“: Gott gilt als höchste Autorität meines Lebens (1. Tim. 1,17)
„Jesus ist König der Juden“: Jesus am Kreuz in der Passionsgeschichte
„Gott ist wie ein guter Freund“: „Ein treuer Freund ist wie ein festes Zelt. Wer einen solchen findet, hat einen Schatz gefunden.“ (Jes. Sir. 6,14)
„Jesus hilft“: Freundschaft ist Beziehung auf Augenhöhe (Barmherziger Samariter / Zachäus)
„Gott als guter Hirte“: Ich lese Joh. 11,16: Der gute Hirte führt die Schafe in den richtigen Stall
„Gott ist Energie / Power“: Ich verweise auf Pfingsten mit dem Feuer- und Sprachwunder
„Jesus ist auferstanden“: Ich stelle die Verbindung zu Ostern her (2. Sonntag nach Ostern)
Nachdem die Laufbewegung nach vorne hin abgeschlossen ist, halte ich in einem nächsten Schritt einen Zettel nach dem anderen in die Luft und lese noch einmal laut ein Ergebnis nach dem anderen vor. Dabei fordere ich die Gemeinde auf, bei ihrem Lieblingsgottesbild die Hand zu heben. Jeder hat drei Stimmen. Ein Kirchenvorsteher zählt die Stimmen und notiert sie sichtbar auf dem beistehenden Flipchart (kurze Randbemerkung in puncto Technik: Da mittlerweile alles digital läuft, sind veraltete Techniken wie Zettelabfrage und Flipchart plötzlich wieder interessant und machen allen Spaß, zumal man selbstaktiv in Bewegung kommt).
Das Gottesbild mit den meisten Stimmen ist „Gott ist im Himmel“, gefolgt von „Gott ist Energie / Power“ und „Gott ist wie ein guter Freund“. Das Hirtenbild erhält nur wenig Zuspruch.
Gemeindebilder generieren Gottesbilder
Welche Gottesbilder in einem Gottesdienst gedanklich vorherrschen, hat viel damit zu tun, welches Gemeindebild vorherrscht. Nicht nur der persönliche, individuelle Glaube entscheidet, sondern das Profil, das Selbstverständnis, das innere und äußere Bild, welches eine Gemeinschaft verkörpert und kommuniziert. Herrscht in einer Kirchengemeinde ein autoritär-patriarchales Gemeindeverständnis, werden auch die Gottesbilder dahingehend ausgerichtet sein, dass eine autoritär-charismatische Führungspersönlichkeit (Gott / Jesus) dafür sorgt, dass die „Schäflein“ mit ihrem Glauben im „richtigen Stall“ landen. Wird hingegen ein kollegial-gabenorientierter Leitungsstil praktiziert, sind die Gottesbilder auf Themen wie „Freundschaft“ und „Gott als Energie / Power“ hin ausgerichtet. – Diese Zusammenhänge erläutere ich in der Predigt. Wichtig hierbei: Es geht um eine Bestandsaufnahme, nicht darum zu bewerten.
„Himmel“ als universales Gottesbild
Im Altarraum werden alle Blätter schließlich auf einer Leine sichtbar aufgehängt. Mit einer Kurbel wird die Leine nun in den „Himmel“ gezogen und damit alle Gottesbilder, die dieser Gottesdienst heute hervorgebracht hat, Gott anvertraut. Der Himmel ist universal: Sowohl der „Himmel meines Alltags“ als Garant von Wetter und persönlichem Geschick, als auch der „theologische Himmel“ als Ort ewigen Lebens bei Gott. Wir schließen die Predigt mit dem Vater Unser, dessen bekannte Anrufung Gottes im Himmel uns alle als Christen eint.
Tabea Rösler