The final countdown“

Wäre es nicht Paulus, sondern ein Stück aus einem Hollywood-Science-Fiction-Epos – wir würden es wohl nur müde belächeln oder aber uns an den gut gemachten Animationseffekten erfreuen und uns bestens unterhalten lassen.

Der Text für die Osternacht: wie der Showdown eines Blockbusters oder der Highscore eines Computerspiels; da werden alle Register gezogen: ein himmlischer Befehl von ganz ganz oben, Auftritt Erzengel, die letzte Posaune ertönt, Auftritt Jesu (vom Himmel herab schwebend), Gräber tun sich auf, Tote – sofern sie noch da sind – krabbeln heraus (bei den bereits Verwesten muss man wahrscheinlich erst noch eine Art „Reinkarnationsprozess“ einschieben), gemeinsames Aufschweben auf den Wolken des Himmels in ein ewiges Licht.

Ist das mehr als im besten Sinne gut gemachtes Entertainment?

 

Entmythologisierung tut not

Soll es denn mehr sein? Dann muss wahrscheinlich der historisch-kritische Koffer weit geöffnet und das gesamte Entmythologisierungsbesteck herausgeholt werden. Ohne eine Dechiffrierung qua existentialer Interpretation ist diesen Bildern und Symbolen wohl nichts abzugewinnen – jedenfalls nicht in einem Lebenskontext, der geprägt ist wie der unsere.

Um welchen existentiellen Zusammenhang geht es hier? Zunächst um den Tod bzw. um die Erfahrung eines Missverhältnisses: die einen leben (noch) und die anderen sind (schon) tot. Gibt es eine denkbare Situation, in der die Lebenden den Toten etwas voraushaben? Wenn das, was zu einem beliebigen Zeitpunkt x erlebbar ist, einen Lebensgewinn darstellt, dann haben die, die es erleben, den Toten etwas voraus. So können wir manche „Segnungen“ modernen Lebens (Wohlstand, Technik) genießen, von denen unsere Großeltern und Urgroßeltern vielleicht nur geträumt haben. Umgekehrt: Wenn das, was zu einem beliebigen Zeitpunkt x erlebbar ist, eine Lebensminderung darstellt, z.B. die Erfahrung eines Krieges, eines Atomunfalls, einer Klimakatastrophe, dann sind die Toten den Lebenden gegenüber im Vorteil, weil „sie das nicht mehr miterleben müssen“.

In diesen Überlegungen regiert ein lineares Zeitverständnis, das mit den Dynamiken von Fortschritt und Degression operiert. Für Paulus, der mit seiner Generation die baldige Wiederkunft Christi und das Ende der Geschichte erwartet, ist genau dieses Zeitschema leitend und sorgt für die „Benachteiligung“ derer, die – wie er – auf Christus gehofft haben, nun aber bereits „vor der Zeit“ verstorben sind.

 

Wer früher stirbt, ist länger tot?

Hand aufs Herz: Haben wir diese Vorstellung von einer Wiederkunft Christi? Von einem Finale der Universalgeschichte? Um ehrlich zu sein: Ich habe sie nicht. Und ich wüsste auch gar nicht, was ich mir darunter eigentlich konkret vorstellen sollte. Der Zugang zum Gedankengebäude des Paulus ist mir an dieser Stelle verschlossen. Ich habe allerdings sehr wohl eine Vorstellung – oder besser: eine Hoffnung – davon, was es heißt, bei Gott zu sein, mit ihm vereinigt zu sein, bei ihm aufgehoben, über alle Zeit hinaus (V. 17).

So gesehen tritt aber kein Missverhältnis zwischen einem früheren Tod und einem späteren Heilsereignis auf. Und genauso unsinnig ist der nihilistisch-ironische Spruch „Wer früher stirbt, ist länger tot“. Beide „Vorstellungen“ denken in einem linearen Zeitschema, das mit dem Tod gerade aufgehoben wird.

 

Ob wir nun leben oder sterben – wir sind des Herrn“

Aus diesem Grund stellt mich der Abschnitt aus 1. Thess. vor ein ganz anderes Missverhältnis, genauer vor zwei: ein Missverhältnis nämlich im Blick auf mein eigenes Leben und Sterben und ein Missverhältnis im Blick auf mein Leben und den Tod anderer.

Tröstlich ist für mich zunächst der Gedanke, dass es für mich und meine Gottesbeziehung keinen Unterschied macht, ob ich lebe oder tot bin. Präzise gesprochen: Was für mich persönlich einen Riesenunterschied ist, nämlich ob ich lebe oder nicht, macht für Gott keinen Unterschied. Er ist in der Lage, seinen Beziehungswillen zu mir aufrechtzuerhalten, ob ich nun lebe oder sterbe oder tot bin. Nichts hält ihn auf. Deswegen bin ich dessen gewiss, dass seine Liebe an meinem Tod keine Grenze findet – was auch immer das heißen und wie auch immer es sich gestalten mag.

Tröstlich ist aber auch der Gedanke, dass ich, der ich lebe, genauso in Gottes ewigem Liebeswillen gehalten bin wie diejenigen, die ich als bereits verstorben vermisse, seien es meine Eltern, mein Partner/Partnerin, eines meiner Kinder… In Gott bin ich mit ihnen verbunden.

Am besten auf den Punkt gebracht wird für mich dieser Gedanke in Röm. 14,8: „Ob wir nun leben oder sterben – wir sind des Herrn“. Diese Textstelle ist für mich die existentielle Substanz des mythologisch entfalteten Weltendramas aus 1. Thess. 4.

 

An-denken in der Stunde des Lebens

Für die Osternacht, die eine Feier im Dunkel einer Nacht ist, die dem Anbruch eines neuen Tages entgegengeht und die das ganz sinnenfällig am Ostermorgen zur Darstellung bringen will, bietet es sich möglicherweise an, die obige Trostbotschaft nicht nur in einer Predigt entfaltet zu bekommen, sondern auch dem liturgischen Erleben zuzuführen.

Meine Idee ist die, dass wir in dieser Osternachtsfeier einmal unseren Verstorbenen ein „Andenken“ eröffnen, das von der Osterhoffnung geprägt ist. Also nicht wie am Ewigkeitssonntag, wo es um ein erinnerndes Andenken an einen Verstorbenen geht, dessen Name oder Bild aufgerufen wird. Und nicht wie in den an Ostern zahlreichen Feiern auf Friedhöfen und Gräbern, an denen symbolisch das „Der Herr ist auferstanden“ proklamiert wird. Sondern so, dass wir unsere Verstorbenen in einer stillen Meditation dem lebendigen und lebendig machenden Gott anvertrauen. Wir bringen sie und damit auch uns selbst und unsere Beziehung, die uns verbindet, vor Gott. Dies könnte z.B. zeichenhaft geschehen durch ein Symbol – eine Blüte, ein Namenskärtchen, ein Foto, einen individuellen Gegenstand –, das wir zur neu entzündeten Osterkerze bringen. Wir verharren einen Augenblick in der Stille, machen uns bewusst, dass sie (samt uns) in der ewigen Gemeinschaft Gottes geborgen und vereint sind, und beten vielleicht kurz für uns und sie.

„So tröstet euch untereinander mit diesen Worten und Gesten“ (vgl. 1. Thess. 4,18).

 

Peter Haigis