Was für ein Tag?!

Karfreitag – in früheren Zeiten galt er, insbesondere in manchen protestantischen Regionen, als der höchste Feiertag des Kirchenjahrs. Wegen des im Karfreitagsevangeliums auf den Punkt gebrachten Höhepunkts des Erlösungsgeschehens. So oder so ist er auf seine Weise einmalig. Die seltene liturgische Farbe Schwarz ist hier am Platz. Leiden, Tod, Schuld, Depression sind Karfreitagsthemen. Was menschlich-existentiell unausweichlich ist, kommt allerdings an diesem Tag so dicht und aufgetragen daher, dass man diesem Aufgebot gerne auch entfliehen möchte.

Was ist das für ein Tag – der Karfreitag? Was bedeutet er mir? Wie begegne ich ihm – oder weiche ihm auch lieber aus? Was bedeutet er unserer Kirchengemeinde und denen, die an diesem Tag vielleicht nicht nur einen Gottesdienst besuchen, sondern auch an einem Kreuzweg, an einer Andacht zur Todesstunde Jesu oder an einem entsprechenden Kirchenkonzert teilnehmen?

Und was bedeutet er einer Gesellschaft, in der an diesem Tag des Leidens und Sterbens Jesu gar nicht gedacht, gleichwohl aber gelitten und gestorben, auch grausam und sinnlos gestorben, und getrauert wird? Einer Gesellschaft, in der manche gar nicht wissen, wer Jesus eigentlich war, oder es nicht wissen wollen? Einer Gesellschaft, die pluralistisch genug ist, neben der christlichen Orientierung auch andere Traditionen zu kennen, in denen dieser Tag keinerlei besonderes Gewicht hat? Einer Gesellschaft, in der junge Menschen an diesem Tag lieber abtanzen wollen als in irgendeiner frommen Veranstaltung zu sitzen?

Vielleicht lohnt es sich, im Vorfeld einmal persönlich darüber zu meditieren bzw. diesen „merkwürdigen“ Feiertag mit seinen Zumutungen im Blick auf „meine“ Kirchengemeinde oder den Ort, an dem wir ihn mehr oder weniger gemeinsam begehen, zu bedenken.

 

Text und Botschaft

Die für den diesjährigen Karfreitag vorgelegte Perikope ist zu umfangreich, als dass man sie in einer Predigt ausschöpfen könnte. Wer in einem Gottesdienst eine liturgisch gestaltete, durch Lieder, Passionsmusik und Gebete unterbrochene Darbietung des Passionsevangeliums beabsichtigt, mag den Text in seiner Länge (und vielleicht noch mehr davor und danach) lesen (lassen). Wer ihn jedoch nur als Predigttext zu Gehör bringt, sollte sich vielleicht auf den Passus beschränken, dem er auch seine Predigtgedanken widmen will. Ich sehe mindestens vier Themen, die es wert wären, ausgeschöpft zu werden.

 

INRI“

Da ist die Inschrift, die Pilatus über dem Kreuz Jesu anbringen lässt. Die Titulatur „Jesus von Nazareth, König der Juden“ mag von Pilatus ironisch oder sogar zynisch gemeint gewesen sein. Das Korrekturbedürfnis, das die Hohenpriester verspüren, legt das nahe. Damit führt der Weg aber zugleich weiter und tief in den christlich-jüdischen Dialog hinein: Was ist das für ein Gottkönig (und Messias), der hier offenbar nicht seine Herrschaft antritt bzw. sie auf eine Weise antritt, die allen menschlichen Erwartungen widerspricht?

Jedes Spottkruzifix, also die Verspottung des Kreuzes, zeugt darüber hinaus nur vom Unvermögen, sich mit der Frage zu befassen, welche Macht Leiden und Tod im menschlichen Miteinander zu entfalten vermögen. Die auf Macht und Herrschaft getrimmte Politik ist blind für die Wunder der Menschlichkeit. Das gilt für die Meister des Todes, die Märtyrer produzieren. Es gilt umgekehrt im Blick auf diejenigen, die für andere in den Tod gegangen sind (nicht nur in den Todeslagern von Auschwitz). Es gilt im Blick auf diejenigen, die auf Gewaltfreiheit und passiven Widerstand setzen.

 

Das Gewand Jesu

Der US-amerikanische Monumentalfilm „Das Gewand“ schildert die fast schon magisch aufgeladene Aura eines Stück Stoffes, das den Geist seines ehemaligen Trägers auf wundersame Weise weiterträgt und Menschen verwandelt. Die darin angelegte Fetischisierung spielt auch auf den späteren Reliquienkult an, ja spielt ihm in die Hände, der im verehrten „heiligen Rock Jesu“ seinen hier unmittelbaren Bezug erhält.

Das muss man nicht mögen, und dennoch bietet das Gewand Jesu eine hervorragende Projektionsfläche für Wünsche, Sehnsüchte, Bilder im Blick auf die Person Jesu und die Bedeutung seines Sterbens: Sühnopfer für unsere Schuld, Hingabe aus Liebe, unschuldiges Opfer einer politisch korrupten Justiz, Fanal einer Revolution, Blutzeuge… Will man das in der Predigt zum Thema machen, bietet sich die Metapher vom Gewand Jesu als eine Leinwand für unsere inneren Bilder möglicherweise an.

 

Adoption

Eine dritte Szene (V. 25-27) spielt das Bild einer neuen Gemeinschaft unter dem Kreuz Jesu ein: die Mutter Jesu erhält im „Lieblingsjünger“ (Johannes?) einen neuen Sohn, der Sohn eine neue Mutter. Jesus empfiehlt die beiden einander an.

Dass dort, wo der Tod Lücken in eine menschliche Gemeinschaft reißt, neue Konstellationen neue Lebensmodelle eröffnen, ist eine aus der systemischen Familienberatung lange bekannte Tatsache. Dass und wie solche „Adoptionsvorgänge“ heilsam und heilend wirken können, ist indessen ein anderes Thema, aber ein vielleicht hier und heute bedenkenswertes. Und das nicht nur im Blick auf die Lücken, die der Tod reißt: Wo können wir einander in Defiziterfahrungen zur Ganzheit verhelfen? Wo Fragmentarisches im Leben mildern, um damit leben zu lernen? Wo Bruchstellen heilen? – Und wo und wie könnte dies auch – zumindest eine – Sinnbestimmung christlicher Gemeinschaft sein?

 

Ende und Anfang

Und dann jenes rätselhafte Schlussbild: Jesus nimmt ein wenig von dem Essig, den man ihm im getränkten Schwamm auf einem Ysoprohr reicht, und stirbt mit den Worten „Es ist vollbracht!“ Essig hat betäubende Wirkung. Er wird Jesus an den Mund geführt, um seine Qualen am Kreuz zu lindern. Aber welche Bedeutung hat dieses „Es ist vollbracht“? Wörtlich: „Es ist vollendet!“

Wahrscheinlich kann man das Schlussbild der Kreuzigung Jesu nur recht begreifen, wenn man Ps. 22 im Ohr hat, den jüdischen Sterbepsalm – samt seinem Ende, seiner „Vollendung“. In der Kreuzigungsszene kommt es zu einigen merkwürdigen Parallelen zwischen diesem Sterbepsalm und dem Geschehen, das Jesus in den letzten Stunden und Minuten seines Lebens widerfährt. Sie sollen zeigen, wie Jesus, der doch Gott selbst unter uns Menschen ist, teilhat an den Tiefen menschlichen Lebens. Die gesamte Wüste, die sich im Sterben eines Menschen auftun kann, so wie es Ps. 22 beschreibt, wird von Jesus durchquert. Doch Ps. 22 endet eben nicht mit dem Tod, sein Schluss weist über das Sterben hinaus auf Gottes Zukunft mit den Menschen.

Die „Vollendung“ dieses Psalmgedichts (Ps. 22,26-32) lässt sich – mit Johannes – auch im Blick auf Jesu Tod lesen: Gottes Geschichte geht nach dem Tod Jesu weiter, ja sie beginnt dann erst von neuem. Menschen werden Gott erkennen und anbeten. Sie kommen zum Glauben, an den, der jeder Lebensgestaltung Grund und Perspektive gibt. Sie sammeln sich in einer großen Lebensgemeinschaft, in der sie sich gegenseitig tragen und stützen, genannt die Gemeinde Jesu. Sie erfahren, dass sie satt und heil werden. Sie erleben, wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit im kleinen Maßstab Gestalt gewinnt. „Denn der Herr hat es getan.“ (Ps. 22,32)

Die Botschaft des Evangelisten an dieser Stelle ist die Adaption des Endes von Ps. 22 auf die Geschichte Gottes mit den Menschen in Jesus: Nun wird es weitergehen – in denen, die angesteckt sind von der Liebe Jesu; in denen, die in ihm mit ihrer Gottessehnsucht an ein Ziel gekommen sind und die Freude darüber nun anderen mitteilen; in denen, die Jesus nachfolgen über seinen Tod hinaus. Jesu Ende war ein Anfang, der es in sich hat.

 

Peter Haigis