Jesus – der Gottesknecht
Am Palmsonntag tritt Jesus von Nazareth in die entscheidende Phase seines Lebens ein. Mit dem Einzug in Jerusalem und der triumphalen Begrüßung durch seine Anhänger macht er aller Welt klar: „Ich bin der von Gott gesandte Retter.“ In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob Israel ihn als Messias anerkennt oder nicht.
Vieles deutet darauf hin, dass Jesus die Antwort Israels und damit sein weiteres Geschick im Buch des Propheten Jesaja, in den sog. Gottesknechtsliedern, vorgezeichnet fand. Der heutige Predigttext ist das zweite dieser Lieder. In den Gottesknechtsliedern wird ein anderes Bild vom Wirken des Messias entworfen, als es in Israel z.Zt. Jesu populär war. Statt die verhasste Fremdherrschaft der Römer gewaltsam zu beenden, lässt sich der im Predigttext beschriebene Messias von seinen Feinden schlagen. Aus freien Stücken nimmt er sein Leiden auf sich: „Ich bot meinen Rücken dar…“ „Mein Angesicht verbarg ich nicht.“
Der Gottesknecht handelt so, wie Jesus es seine Jünger in der Bergpredigt gelehrt hat: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dann biete die andere auch dar.“ Mit dem Gebot der Feindesliebe ist ein radikal neuer Umgangston in die Welt gekommen. Fortan soll das Prinzip der Deeskalation das menschliche Miteinander prägen.
Ein Messias der Müden
Noch ein weiterer Zug des Gottesknechts wird hervorgehoben: Er weiß mit den Müden zur rechten Zeit zu reden. In Momenten der Schwäche und der Resignation wirkt ein ermutigendes Wort wie Balsam.
Der leidende Gerechte geht nicht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen, wie es die Herrscher der Welt so häufig tun – natürlich mit den hehrsten Zielen. Die Erfahrung lehrt, dass die hehrsten politischen Ziele sich in dem Moment, wo sie mit gewaltsamen Mitteln durchgesetzt werden, in ihr Gegenteil verkehren. Die Art der Mittel muss den verfolgten Zielen entsprechen.
Für den im Predigttext porträtierten Messias sind Müde, Kranke und Verzweifelte kein Hindernis auf dem Weg, sein Ziel zu erreichen. Im Gegenteil: Dieser Messias hat Mitleid und Erbarmen mit ihnen. Er lässt sich von ihnen stören und spricht den Müden neuen Lebensmut zu und verleiht ihnen neue Kräfte.
Warum verhält sich der Messias so anders als die meisten Mächtigen der Welt? Er hat sich sein Verhalten von Gott selbst abgeschaut. Bis zum heutigen Tag lässt Gott es zu, dass seine Ehre mit Füßen getreten wird. Als Liebhaber des Lebens erträgt er es, dass Menschen anderen die Mittel vorenthalten, die zu einem menschenwürdigen Leben notwendig sind.
Gottes Meisterschüler
Dass der Messias sich entsprechend dem Willen Gottes verhält, wird mit einem Bild beschrieben: Er ist Jünger Gottes – wörtlich übersetzt heißt es: Er ist ein Lernender, Gottes Meister-Schüler, dem Gott täglich das Ohr öffnet. Er befindet sich mit Gott in einem immerwährenden Gespräch.
Viele Menschen, auch viele Hörerinnen und Hörer der Predigt, werden Gottes Ruf schon einmal gehört haben. Als ich Vikar war, erzählten mir manche Gemeindeglieder von ihren Kriegserlebnissen. Sie waren überzeugt, dass sie das Überleben einer inneren Stimme verdankten, die ihnen die Richtung wies, als sie sich zwischen den Fronten hoffnungslos verirrt hatten.
Um Gottes Wort vernehmen zu können, braucht es Hörvermögen. Gottes Geist muss einem Menschen dazu das Ohr öffnen. Paul Schütz, einer der vergessenen evangelischen Theologen des vergangenen Jahrhunderts, sprach von Gottes Stimme als einer Stimme im Inkognito (Paul Schütz, Die Kunst des Bibellesens, in: ders., Evangelium, Moers 1984, 17-134). Sie ist zudem leise, so dass sie angesichts verbreiteter Lärmverschmutzung im Alltag unterzugehen droht.
Weil der Messias Gottes Willen tut, hat er die Kraft, die Schläge auszuhalten, die ihn treffen: „Ich habe mein Angesicht hart gemacht wie einen Ziegelstein.“ Sogar die Leiden machen ihn seiner Berufung gewiss. Auch wenn im Moment alles dagegen zu sprechen scheint, wird Gott dafür sorgen, dass er nicht zuschanden wird!
Gute Botschaft für alle auf der Schattenseite des Lebens: für die Benachteiligten, für die, die sich erfolglos abgearbeitet haben, die mit ihrem Latein am Ende sind, die resigniert haben, weil sich trotz aller Bemühungen die Dinge in ihrem Leben nicht zum Besseren verändern. Für sie alle – im Predigttext werden sie als die Müden bezeichnet – ist das Kommen des leidenden Messias eine gute Nachricht. Gute Nachricht, weil der von Gott Gesandte nicht nur Mitgefühl und gute Worte für sie hat, sondern ihnen in ihrer Not auch zu Hilfe kommt, so dass jeder und jede von ihnen sagen kann: „Ich werde nicht zuschanden.“
Peter Zimmerling