Ein Ausblick auf Karfreitag
So wie der 4. Sonntag der Passionszeit, „Laetare“, ein kleiner Vorblick auf Ostern ist, so ist der Judika-Sonntag der Ausblick auf Karfreitag. Das deutet sich im Predigttext für den heutigen Sonntag an: ein Abschnitt aus der johanneischen Passionsgeschichte. Das Verhör vor Pilatus steht zwischen der Szene vor dem Hohen Rat und der anschließenden Verurteilung durch Pilatus. Ein klassischer Karfreitagstopos, nun dargeboten am Sonntag Judika, um auf den Höhepunkt des Leidens und Sterbens Christi vorzubereiten. Das passt zum Wochenspruch aus Mt. 20,28, der das Hingabemotiv im Tod Jesu anklingen lässt (nicht unbedingt als Sühne verstanden, wie es das Wochenlied EG 76 anspricht!). Es passt in anderer Weise auch zum Sonntagsnamen, der dem Beginn des Wochenpsalms (Ps. 43) entlehnt ist, welcher nach der Rechtsprechung des zu Unrecht Leidenden und Gestraften fragt. Diese unterschiedlichen Motive spiegeln sich auch im Predigttext für diesen Sonntag. Dazu im Folgenden vier Ideen.
Szenen eines Schauprozesses
Die Perikope selbst stellt einen kompakt konzipierten Ausschnitt aus dem Verhör Jesu vor Pilatus dar. Joh. verfasst die gesamte Szene nach dem Muster eines antiken Dramas, das vor allem vom Dialog der beiden Protagonisten beherrscht wird.
Zu Beginn bringt eine Delegation des Hohenpriesters Kaiphas (so muss man wohl das „sie“ in V. 28 deuten) Jesus als Gefangenen und Angeklagten zu Pilatus, dem römischen Gouverneur, als der herrschenden Instanz und obersten Gerichtsbarkeit. Die Erwähnung der „Juden“ in V. 31 verstehe ich einmal im religiös-kultischen Sinn (Bezug zu V. 28 und dem Problem der Verunreinigung kurz vor dem Passafest), zum andern im Sinne einer politischen Verhältnisbestimmung: „sie“ sind (neben König Herodes, der hier keine Rolle spielt) die obersten Vertreter eines der römischen Weltmacht unterworfenen Volkes, stehen somit den Römern als Besatzungsmacht gegenüber – eine Konstellation, die sich auch in den nachfolgenden Worten des Pilatus widerspiegelt (vgl. 18,33.35.39 sowie 19,19). Die Bezeichnung ist hier nicht antisemitisch oder antijudaistisch gemeint, wie es die Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums leider nahelegt, sondern zwar durchaus diminutiv, aber eben aus einer imperialen Perspektive.
Die kurze Sequenz zwischen den Vertretern des Judentums und Pilatus zeugt von den bestehenden Herrschaftsverhältnissen und bildet den Auftakt eines Dialogs zwischen Pilatus und Jesus, in dem nun Joh. die eigentlichen „Herrscher“ aufeinanderprallen lässt (V. 33-38). Diese Hauptszene bietet einen kurzen Schlagabtausch zwischen Pilatus und Jesus, wobei das Gewicht der Worte für den Evangelisten klar auf der Seite Jesu steht. Pilatus bleibt lediglich die Rolle des bisweilen etwas verständnislos Fragenden.
Zum Abschluss des Kapitels wendet sich Pilatus erneut an die hohepriesterliche Delegation, um das Ergebnis seiner Befragung mitzuteilen: „nicht schuldig“. Interessanterweise lässt Pilatus daraufhin Jesus aber nicht frei oder überantwortet ihn als „für den Fall nicht zuständig“ zurück an die Delegation, sondern versucht, einen Tauschhandel einzufädeln.
Da dieser Plan jedoch scheitert, vollzieht Pilatus an Jesus ein Exempel, indem er ihn auspeitschen lässt und anschließend den geschundenen und gedemütigten Gefangenen erneut vorführt – eine Provokation, die auf der Seite der jüdischen Delegation verständlicherweise keine Befriedigung auslöst, sondern im Gegenteil den Willen zum Todesurteil nur noch steigert.
„Was ist Wahrheit?“
Im Zusammenhang des Dialogs zwischen Pilatus und Jesus fällt die Frage „Was ist Wahrheit?“ Eine Frage von großer Tragweite, fundamental für den Lebenszusammenhang von Menschen in allen Beziehungskonstellationen. Eine Frage, deren Bedeutung bereits Kinder lernen. Eine alltägliche Frage. Eine philosophische Frage. Aber auch eine Frage von religiöser Bedeutung.
Bei Joh. ist „Wahrheit“ nicht einfach die Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt zur Vermeidung und zum Ausschluss des Irrtums. Auch nicht einfach das Gegenteil von einer Lüge oder einer Falschaussage. „Wahrheit“ ist nach Joh. selbst eine Macht, und zwar eine, die in die Tiefe des Seins Gottes hineinreicht. Wahrheit hat mit Freiheit zu tun. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen,“ sagt Jesus an anderer Stelle (Joh. 8,32).
Die Wahrheit, von der Joh. schreibt, ist etwas anderes als der Wahrheitsanspruch von Mächtigen, sie ist eine Beziehungsangelegenheit. Sie hat ihren Grund in der Beziehung zwischen Gott und Mensch und setzt sich fort in den Beziehungen der Menschen untereinander. Wahrheit erschließt sich in diesen Beziehungen und sie zeitigt Wirkungen darin und hieraus. Dazu sind Glaube und Vertrauen nötig: Ohne Vertrauen keine Wahrheitserkenntnis! Wahrheit ist der Maßstab für den Abstand zweier Personen, im Verhältnis von Mensch und Gott wie im Verhältnis von Mensch zu Mensch. Nähe und Distanz, Übereinstimmung und Unverständnis spielen da eine große Rolle, aber eben auch Offenheit, Abschottungen und der Mut, sich berühren zu lassen…
„Das Evangelium nach Pilatus“
Der Schriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt folgte dem Reiz einer literarischen Fiktion und verfasste 2005 ein „Evangelium nach Pilatus“. Schmitts Roman hat drei Teile (und erweist sich darin mehr als Schimäre literarischer Genres und weniger als „Roman“): einen ersten Prolog mit Überlänge, in der ein zum Tode Verurteilter am Abend seiner Verhaftung (natürlich Jesus selbst) sein Leben Revue passieren lässt; das „Evangelium nach Pilatus“ im Mittelteil, das seiner literarischen Form nach ein Briefwechsel ist zwischen Pilatus und seinem Bruder Titus in Rom; schließlich das Nachwort des Autors Schmitt, das in einer weiteren literarischen Verpuppung „Die Chronik eines gestohlenen Romans“ und damit das – natürlich fingierte – Schicksal des von Schmitt selbst verfassten Manuskripts schildert.
Im Mittelteil seines Buches charakterisiert Schmitt Pilatus als einen Skeptiker. Jesus sei von den Toten auferstanden – behaupten später seine Anhänger. Pilatus hält das für unmöglich und versucht das Phänomen „Auferstehung“ mit Polizeimethoden aufzuklären: Verdacht auf Diebstahl des Leichnams Jesu, Untersuchung des Grabes, Verhöre der Jünger – die ganze Palette kriminalistischen Handwerks. Mitten in den Ermittlungen kommt Pilatus seine Frau Claudia in die Quere. Sie hat eine gewisse Sympathie für den Mann aus Nazareth. Vor längerer Zeit war sie Jesus begegnet. Er hatte sie von einer schweren Krankheit geheilt. Deshalb erhob sie gegen die bevorstehende Verurteilung und Kreuzigung Einspruch. Doch bei ihrem Mann vermochte sie nichts auszurichten. Inzwischen – nach Jesu Tod – hat sich Claudia der Jüngerbewegung angeschlossen.
Langsam beginnt der skeptische Widerstand von Pilatus zu bröckeln. Er macht sich auf die Suche nach seiner Frau und begegnet einer Reihe von Menschen, deren Leben durch die Liebesbotschaft Jesu verändert wurde. Das sind andere Begegnungen als die Verhöre und Zeugenbefragungen von einst. Und nun spürt Pilatus auch, warum es den Anhängern Jesu nicht um den toten Jesus im Grab geht.
Schmitts Roman bietet die Chance, die Person Pilatus einmal unter anderer Perspektive zu lesen: als einen, der durch die Begegnung mit der Botschaft von und über Jesus ins Fragen und Grübeln kommt. Warum nicht diesen literarischen Kunstgriff in einer Predigt auf diese Perikope anwenden? Vielleicht hat die Begegnung mit Jesus Spuren in Pilatus hinterlassen, die ihn aus seiner Rolle des obersten Richters in diejenige eines nach dem Leben und seinen Möglichkeiten Fragenden treiben.
Bilder einer Ausstellung
Wer lieber mit Bildern predigt, dem bieten sich beim Thema der Sonntagsperikope zahlreiche Möglichkeiten. Auf zwei Varianten will ich hinweisen, die möglicherweise auch die vorab geäußerten Predigtideen vertiefen.
Der ukrainisch-russische Maler Nikolaj Ge (Nikolajewitsch) (1831-1894) hat 1890 die Szene zwischen Pilatus und Jesus in einem Gemälde einzufangen versucht, in der Pilatus Jesus verhört: „Was ist Wahrheit? – Christus vor Pilatus“ (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c6/What_is_truth.jpg). Er stellt die beiden Akteure in einem intimen Zwiegespräch abseits jeder Öffentlichkeit dar. Pilatus wirkt vordergründig aktiv, forsch, zudringlich; doch dem steht die statuarische Ruhe des Jesus (Christus) gegenüber, der aus gänzlich anderen Quellen zu schöpfen scheint. Interessant ist u.a. die Verteilung von Licht und Schatten, die Pilatus (ebenfalls vordergründig) ins Licht stellt und Jesus in ein geheimnisvolles Dunkel hüllt, ganz anders als sonst in den Inszenierungen der Macht bei Verhören. Zugleich drängt die Farb- und Lichtgebung auf dem Antlitz Jesu den Betrachter hin zu einer vertiefenden Erkenntnissehnsucht dessen, wer dieser Jesus denn eigentlich ist. Der Wunsch nach Erhellung, ja Erleuchtung ist greifbar. Interessant ist aber auch die Rückenansicht des Pilatus, die den Bildbetrachter zu einem Double des Statthalters macht, der – gewissermaßen im Rücken des Machthabers – seine eigenen Fragen an diesen Jesus stellen kann.
Eine zweite Darstellung, auf die ich hier hinweisen möchte, stammt von Antonio Ciseri (1821-1891): „Ecce Homo“, entstanden zwischen 1860 und 1880 (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Ecce_homo_by_Antonio_Ciseri_%281%29.jpg). Sie zeigt eindeutig den gefolterten und gepeinigten Jesus, der als gedemütigter „König der Juden“ dem öffentlichen Spott dargeboten wird. Ciseri stellt Jesus aber nicht als gebrochenen Mann dar, sondern aufrecht, selbstsicher, vielleicht auch „gottesbewusst“. Er steht da wie eine Statue und überragt in seiner Körpergröße alle anderen Akteure auf diesem Bild (auch die römische Prätorianergarde, die nur mittels ihrer Büschelbewehrten Helme an Jesu Größe heranreicht). Und auch Ciseri bietet dem Betrachter eine ungewohnte Perspektive, indem er ihn nicht etwa unten beim Volk ansiedelt (wie dies in vielen anderen Darstellungen der Fall ist), sondern aus einem Abstand heraus im Rücken von Pilatus. Das hebelt die gängige Inszenierung der politischen Macht aus und eröffnet zugleich Distanz zum Geschehen und damit die Möglichkeit zu einigen offenen Fragen.
„Ecce Homo“
Eine letzte Anregung: Mit dem „Ecce Homo“-Motiv verbindet sich vielfach der Anblick eines zu Unrecht gefolterten und gequälten Menschen, eines Gefangenen, der der Willkürjustiz politisch Mächtiger ausgeliefert ist, die dem Opfer durch Peinigung, Misshandlung und Spott die Würde rauben wollen. Doch das „Ecce Homo“ kann zugleich betonen, dass diese Menschenwürde unverlierbar ist, auch wenn sie mit Füßen getreten wird. In einer Welt, in der diese Brutalität tagtägliche Praxis ist, könnte der Judika-Sonntag mit dem heutigen Perikopentext auch Anregung genug sein, im Gottesdienst das Unrecht gegenüber politisch oder religiös Verfolgten in aller Welt zum Thema zu machen.
Peter Haigis