Nicht gewachsen
Irgendwann macht wohl jeder die Erfahrung, einer Herausforderung nicht gewachsen zu sein: Die Last wird mir zu schwer. Hätte ich nur Nein gesagt! Ich komme da nicht mehr heraus, muss irgendwie durchhalten. Es ist schon schwer genug, am Abgrund des Scheiterns zu stehen und sich selber einzugestehen, dass die Aufgabe mehrere Nummern zu groß ist. Noch schlimmer ist es, wenn andere das mit Spott und Hohn kommentieren. Das ist schmerzhaft und lässt einen Menschen im Dunkel zurück. Nicht nur Erwachsene, schon Kinder und Jugendliche machen die Erfahrung, plötzlich allein im Regen zu stehen – in der Familie, in der Schule, im Verein. Woher kommt mir Hilfe?, möchte man mit dem Beter des 121. Psalm rufen.
Du hast gewonnen
Jeremia geht auf dem Zahnfleisch. „Ach“ ist sein allererstes Wort (Jer. 1,6). Jeremia – ein seufzender Prophet. Dieses „Ach“ steht über seinem ganzen Leben und ist in seine Erlebnisse mit Gott und der Welt eingeschrieben: „Ach“ – die selbstfabrizierten Götter! „Ach“ – die Verfolgung durch die eigenen Priester und Propheten! „Ach“ – der Spott und die Beschimpfung durch die Leute! „Ach“ – die Schläge! „Ach“ – die politische Dummheit! „Ach“ – gesprochen aus der Tiefe der schlammigen Zisterne. „Ach“ – der lebenslange Kampf und am Schluss doch der Misserfolg!
Jeremia nimmt ernst, was Gott ihm zumutet. So auch in Jer. 20, der fünften „Konfession“, in welcher der Prophet im Stil der Klagelieder des Einzelnen über sein Geschick und Amt klagt. Mit eindrücklichen Worten („zu stark“, „hast gewonnen“) beschreibt er, wie Gott ihn zwingt, seine Gerichtsworte weiterzusagen, was ihm Widerstände und Anfeindungen einträgt. Es dominiert die Klage über das Leiden an Gottes Wort. Seine Gemeinschaft mit Gott wandelt sich in tiefe Einsamkeit. Die in seinen Mund gelegten göttlichen Worte (Jer. 1,9) werden in seinem „Mund zu Feuer“ (Jer. 5,14), das Leib und Seele brennen lässt (Jer. 20,9).
Selbsthingabe in unserem Interesse
Die Predigt über diesen Text geschieht in der Passionszeit, an Okuli. Auch Jesus hat sich auf den Weg des Leidens, der Passion begeben, der ihn über den Rand des Erträglichen führte. Dies geschah nicht nur im Einstimmen in Gottes Willen (Mt. 26,39), sondern auch im Verzweifeln an ihm (Mt. 27,46). Passioniert macht Jesus sich den Schrei der Gedemütigten aller Zeiten zu Eigen. An seinem Leiden und Weg in die Tiefe wird deutlich, welchen Weg Gott für sein Handeln wählt: Er lässt sich nicht auf eine alles dominierende, willkürlich verfahrende Allmacht festlegen.1 Vielmehr entscheidet er sich für das Dienen und Erleiden und damit für den Weg der Selbsthingabe in unserem Interesse.
Von Gottes Handeln in seinem Sohn zu reden, bedeutet zugleich, mehr von der Welt auszusagen als das, was vor Augen liegt. Was auch immer geschieht und was auch immer Menschen erleiden: Kreuz und Auferweckung Jesu Christi zeigen, dass Gott leidende Menschen, auch wenn sie von der konkreten Fürsorge Gottes nichts wahrnehmen, nicht im Stich lässt, sondern gerade in Leid und Tod ganz bei ihnen ist. Darauf sind die Augen zu richten (vgl. Ps. 25,15 zu Okuli).
Nach dem „Ach“ das große „Aber“
Jeremias Burnout wandelt sich in ein Brennen für die Zuversicht, dass Gott trotz allem „wie ein starker Held“ zur Stelle ist. Nicht der Heldenmut der Spötter, sondern der wahre Held behält die Oberhand. In V. 11 wird mit „aber“ ein vollkommen neuer Ton angeschlagen. Die Klage wandelt sich in Vertrauen. Jeremia, dessen Work-Life-Balance aus den Fugen geraten ist, spürt Lebensgewissheit und Gottesnähe. Seine „Konfession“ ruft in Erinnerung: Der Glaube lebt in Spannungen. Es kann mühsam sein, wenn ein Mensch es mit Gott zu tun bekommt. Das zu ignorieren ist keine Lösung.
Der Religionsphilosoph Tomáš Halík schreibt angesichts der vielfältigen Enttäuschungen mit Gott und der Religion: „Auch in dieser Zeit der Ermüdung und Frustration ist es nötig, es noch einmal mit dem Christentum zu probieren. […] Es bedeutet, in die Tiefe zu gehen, aufmerksam zu warten, bereit sein zu handeln.“2 Es gilt, gerade dann, wenn Gott fehlt, die Suche nach ihm nicht aufzugeben, sondern darauf zu vertrauen, von ihm vor allem Suchen schon gefunden zu sein.
Anmerkungen
1 Vgl. Michael Beintker/Albrecht Philipps (Hg.), Das Handeln Gottes in der Erfahrung des Glaubens. Ein Votum des Theologischen Ausschusses der UEK in der EKD, Göttingen 2021, 60–62.
2 Tomáš Halík, Der Nachmittag des Christentums: Eine Zeitansage, Freiburg i.Br. 2022, 14.
Matthias Freudenberg