Reminszere – Plädoyer für das Leben

Der Sonntag Reminszere ist der Gedenktag für bedrängte und verfolgte Christen. Das Thema ist evident. Weltweit werden 380 Mio. Christen verfolgt und getötet (https://www.katholisch.de/artikel/58848-studie-380-millionen-christen-weltweit-verfolgt-tausende-getoetet). Obwohl „Christenverfolgung in der Welt“ ein überaus wichtiges und wissenswertes Thema ist, habe ich mich entschieden, den Schwerpunkt an diesem Sonntag anders anzusetzen. Den Impuls hierfür bietet der Bibeltext selbst. Achtmal kommen in der acht Verse umfassenden Rede Jesu gegenüber Nikodemus die Begriffe „Leben“, „Liebe“ und „Licht“ vor. V. 13 eröffnet mit dem Symbol der Moseschlange, einem durch Erhöhung auf dem Stab sichtbar gemachten Rettungszeichen. V. 21 schließt mit der Verheißung, dass ich/wir durch unser Tun der Wahrheit zum Licht kommen. Mein/unser Denken und Handeln in der Welt sollen eine Qualität des Ewigen widerspiegeln. Sie sollen ein sichtbares, wirkmächtiges Zeichen setzen, der erhöhten Moseschlange vergleichbar, gegenüber Finsternis und üblen Werken.

In meiner Predigt verlasse ich somit die Perspektive bedrängten und verfolgten globalen Christseins und lenke den Blick auf uns bzw. mich persönlich. Meine Leitfrage: Welche Potentiale bringen wir als Christen, bringe ich als Christin mit, um Begriffe (Werte, Visionen) wie „Leben“, „Liebe“ und „Licht“ in Kirche und Gesellschaft leuchten zu lassen und zu feiern?

 

Glaube als Ich-Stärke

Jesu Rede (V. 14-21) ist in ein Zwiegespräch zwischen dem jüdischen Gelehrten Nikodemus und Jesus eingebettet. Mittels dessen vermittelt Jesu Rede durchgängig eine persönliche Perspektive, auch wenn von der „Welt“ im Allgemeinen gesprochen wird. So wie Nikodemus, „wachsen“ auch wir im vertrauensvollen Gespräch mit am Glauben interessierten Menschen. Von Gottes Leben, Liebe und Licht erfüllt zu sein, deute ich so, dass diese Gaben sich an der Stärke, der Resilienz, der eigenen Persönlichkeit zeigen. Glaube ist eine Form der emotionalen, ja, spirituellen Intelligenz, welche die Persönlichkeitsstruktur eines christlich geprägten Menschen auszeichnen kann. Ich frage mich manchmal, wie Menschen, die in emotional und spirituell herausfordernden Berufen arbeiten, es schaffen, als starke Persönlichkeiten Schwierigkeiten durchzustehen und anderen dauerhaft zu helfen. Der christliche Glaube ist eine Kompetenz, die die Resilienz von Menschen fördert, sich selbst und der Gemeinschaft zugute.

 

Glaube als Arbeit am eigenen Verhalten

Zwei weitere Schlüsselwörter werden achtmal in den acht Versen genannt: „Glauben“ und „Werke“. Nicht, als würde man einen Schalter umlegen, stellen sich Leben, Liebe und Licht ein, nein, sie müssen erarbeitet und erkämpft werden. Die Wende fängt bei jedem selbst an, bei der Arbeit am eigenen Verhalten. Und dann geht die Arbeit weiter bei der Liebe für den Nächsten und der politischen Verantwortung für diese Welt. Hinter all diesem Streben aber steht Gott und sein Einsatz für das Leben, die Liebe und die Heilung der Welt. Wir Christen haben eine Mission, für die zu kämpfen es sich immer wieder lohnt: „Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in Gott getan sind.“ (V. 21).

 

Apologetik im eigenen Land

Zum Glück leben wir in unserem Land in keiner Situation der Christenverfolgung. Wohl aber leben wir in einer Situation der Apologetik (Paul Tillich). Unser Predigttext ist Apologetik pur. Er lebt aus dem Streben, Christinnen und Christen Mut zu machen, ihr Licht, ihre Potentiale in unserer Welt leuchten zu lassen. Der christliche Glaube ist eine Kompetenz der Ich-Stärke. Der christliche Glaube ist die Mission hin zu einer lebenswerteren Welt für uns alle. Der Glaube ist keine Spinnerei, die Kirche keine überflüssige Institution, die nur Geld verschlingt und Kirchensteuern kostet. Glaube und Kirche sind wertvoll und essentiell. Sie sind Plädoyer für das Leben in einer politisch, sozial und individuell bedrohten Welt.

 

Tabea Rösler