„Wer leben will wie Gott auf unsrer Erde …“
Kaum eine Zeit im Kirchenjahr scheint mir so von widerstreitenden Gefühlen geprägt zu sein wie die „Quadragesima“, die 40 Tage von Aschermittwoch bis zur Osternacht: Hat das Licht von Bethlehem erst den Weg ins neue Jahr beschienen und bot sich knapp eine Woche zuvor noch Gelegenheit, das Leben wortwörtlich in aller Lebenslust zu feiern, ist es wohl nun an der Zeit, jene Feierlaune und manche ihrer Folgen aufzuarbeiten – für die einen im Wesentlichen (oft ausschließlich) ein mit dem Begriff „Fasten“ beschriebener Prozess der äußeren und inneren Reinigung, der physischen und psychischen Entschlackung, der spirituellen Selbstfindung, auch der (wenigstens zeitweisen) Abstinenz, die mit nahezu derselben Vehemenz betrieben wird wie die Feierlaune zuvor.
Dieser eine Moment in dieser Zeit scheint leicht kommunizierbar, der andere, im christlichen Kontext entscheidendere, bedarf hingegen oft der Erinnerung und Erklärung, selbst innerhalb der christlichen „Blase“: Kaum ein Topos christlicher Glaubenslehre vermittelt sich scheinbar schwerer als das, was im Credo mit den Partizipien „gelitten unter …“, „gekreuzigt“, „gestorben“ und „begraben“ umrissen wird: der Weg Gottes, der Mensch wurde, um alles mit den Menschen zu teilen, selbst den Tod in Form einer Exekution. Der frühere Jesuitenpater und Dichter Huub Oosterhuis brachte diesen Weg in seinem Lied „Wer leben will wie Gott auf unsrer Erde …“ auf eine griffige Kurzformel für etwas, das eigentlich zu groß ist, als dass es sich zu einer Kurzformel verdichten lassen könnte.
Die Tonspur für 40 Tage
Da der Aschermittwoch als Beginn der „Quadragesima“ im evangelischen Denk- und Festraum, wie mir scheint, eher selten bespielt wird (was zu ändern durchaus die eine oder andere Überlegung wert wäre), kommt dem Sonntag Invokavit, dem ersten der Passionszeit, wie auch seinen Texten die Aufgabe zu, den Ton für die Zeit bis zum Triduum sacrum zu setzen. Dies gilt (ohne wirklich unnötige Ängste schüren zu wollen) auch für dessen Predigten. Sie bieten ggfs. sogar die Chance, von Invokavit an einen Bogen zu spannen, der Jesu Weg nach Golgatha beleuchten und zu einer ganz eigenen Form der Findung (mit und ohne „Selbst-“ davor) ermutigen kann (bei Osterhuis, wieder in einer „Kurzformel“: „Den gleichen Weg ist unser Gott gegangen, und so ist er für dich und mich das Leben selbst geworden“). Der Sonntag spannt so einen Bogen auf: zwischen der Passion eines Schuld- und Sündlosen und unseren realen Erfahrungen mit Schwächen, Scheitern, Schuldigwerden und Einander-etwas-schuldig-Bleiben auf der einen Seite und der ermutigenden, tröstenden Zusage des namengebenden Psalmwortes „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören“ (Ps. 91,15) auf der anderen.
Ein Brückenbauer besonderer Art
In einem ähnlichen Bogen, vielleicht nur ungleich schwerer zu tragen, mögen sich jene Έβραίοι wahrnehmen, an die sich die drei Verse des Predigtextes richten und von denen wir außer dieser Anrede nicht mehr wissen, als der (ebenfalls unbekannt bleibende) Adressat in diesem Schreiben mitteilt – weniger ein Brief, sondern wie mit Otto Michel noch immer zurecht festzuhalten ist, die „erste vollständige urchristliche Predigt, die uns erhalten blieb“ (Michel, 24). Der Verfasser dieser Predigt kennt vermutlich die Adressaten und weiß dank hohem rhetorischem und theologischem Denk- und Sprachvermögen ihre Situation gut in Worte zu kleiden: in realem Leiden, ihres eigenen Besitzes zum Teil beraubt, in Angst vor weiterer Verfolgung, in Gefahr der Anfechtung, der Trägheit, Müdigkeit, Verbitterung bis zur Aufgabe von Glaube und Gemeinschaft. Mit Osterhuis könnten wir formulieren: „Der Sonne und dem Regen preisgegeben“. Und vermutlich von Fragen wie diesen umgetrieben: Woraus ist Mut zu schöpfen, um weiterzumachen? Wo hilft der Glaube, nicht aufzugeben? Wo ist Gott in Zeiten der Lebensgefahr?
In dieser Predigt an die Έβραίοι kommt in einmaliger Weise im NT der Begriff ἀρχιερεύς ins Spiel – „Hohepriester“, eines von vielen Bildern und Titeln für „Jesus, den Sohn Gottes“: Messias, Logos, Menschensohn, Prophet, Rabbi, Weisheitslehrer, und hier eben, in Verbindung mit Ps. 110,4b („Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks“) und mit der kultischen Sprache des AT, der „Hohepriester“. Einer, der wissen sollte, wie es geht, der näher dran ist an allem. An Gott. An Macht. An Einfluss. In vielen Religionen des Altertums hielt der ἀρχιερεύςVerbindung und Kommunikation aller Glaubenden zur Gottheit aufrecht, in Rom hieß er pontifex maximus, „größter Brückenbauer“.
„Der Sonne und dem Regen preisgegeben …“
Bis heute sind Brückenbauer gefragt, wo es über reale Abgründe oder rein gedankliche gehen soll. In Huub Osterhuis’ Lied könnte sich auch die Gemeinde im März 2025 wiederfinden – nicht nur nach Wahlen, Kriegen und sonstigem globalen Rabatz: „Das kleinste Korn in Sturm und Wind muss sterben, um zu leben“. Die Fragen der Έβραίοιadressieren auch unsere Zeiten vielfältigster Lebensgefahr: wir sorgen uns, ängstigen uns, lassen uns ins Bockshorn jagen, sind angefochten, müssen in unseren gesellschaftlich-politischen Diskursen einige Dummheit, Hybris, Selbstüberschätzung verdauen. Jesus, der ἀρχιερεύς kann hier entlasten: Wir müssen uns und anderen nichts vormachen, uns nicht in die Tasche lügen, nicht für alles rechtfertigen, nicht immer heilloser in seelische Tiefen verstricken. Christus, der „Brückenbauer“, in allem Mensch mit uns, hat die Not menschlicher Existenz, sich von Gott getrennt zu erleben, in Leiden und Kreuz selbst erlebt und erlitten, er ist unter uns, kann unseren angefochtenen Glauben beleben, steht nicht für die Trennung zwischen Gott und Mensch, sondern lädt zur Nähe ein: „Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade“ – was bisher dem Hohenpriester vorbehalten war.
Diese Einladung sollte den Ton setzen für die heutige Predigt, den Sonntag Invokavit, eigentlich für die ganze „Quadragesima“. Und zu den Ton- und Wortsetzern dieser Zeit darf für mich gerne neben Huub Osterhuis auch Konstantin Wecker stehen, der durchaus öfter in christlichen Predigten zu Wort kommen könnte: „Leben heißt Brücken schlagen über Ströme, die vergehn“.
Lied
EG 553 (Bayern/Thüringen)/GL 460 „Wer leben will wie Gott auf unsrer Erde …“
Literatur
Otto Michel, Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 71975
Patrick Fries