Vorbemerkungen
Ich kann mich noch gut an ein Bild eines alten Religionsbuchs erinnern: Im Vordergrund sitzt Jesus auf einem Stuhl, und vor ihm zu seinen Füßen sitzt Maria: jung, schön, hingebungsvoll. Im Hintergrund Martha, die durch die Küchentür schaut: älter, verhärmt – dahinter die dampfenden Kochtöpfe. Dieses Bild entspricht der älteren Auslegungsgeschichte: Maria und Martha als Sinnbilder für die vita contemplativa und die vita activa.
Die Geschichte zählt mit zu den bekanntesten Stellen im NT und hat schon immer Frauen provoziert wie kaum eine andere. Dies liegt an der erfahrenen Auslegungstradition: die Aktive und Dienende wurde gegen die Kontemplative und demütig Hörende ausgespielt. Sie wurden jeweils abgewertet oder idealisiert, gerade so, wie die Auslegenden es für die Frauen richtig fanden. Eine frühe Ausnahme ist da Meister Eckehardt. Er kritisierte die abwertende Sicht auf Marta und sah Martha als die Reifere an, die nicht will, dass Maria im „Wohlgefühl und in der Süße stecken bleibt“1.
Eine spätere Auslegungsgeschichte verwies auf das Johannesevangelium, wo Martha das erste Christuszeugnis im Evangelium ablegt und an anderer Stelle Jesus entgegengeht und ihm klagt, dass er zu spät zu ihrem kranken Bruder kommt, Maria aber im Hintergrund bleibt und weint. In diesem Kontext wurde ein anderes Bild von Martha entworfen. Doch sich nur auf den Gegensatz zwischen den beiden Schwestern zu konzentrieren wird der Geschichte nicht gerecht – vor allem im Hinblick auf die vorausgehende Erzählung vom Barmherzigen Samariter, bei der es um das Tun geht.
Zur historischen Einordnung schreibt Judith Hartenstein2: „Die Geschichte aus Lk10 kann das Wissen um zwei Schwestern bewahrt haben, die Jesus unterstützen und zu seinen Jüngerinnen und Jüngern gehören, aber selbst nicht mit ihm wandern. Die Selbstverständlichkeit des Umgangs zwischen Martha und Jesus und die Darstellung von Maria als Schülerin Jesu spricht jedenfalls für einen andauernden Kontakt, nicht für ein einmaliges Zusammentreffen.“
Zur Exegese
Hier gibt es nur wenige Unklarheiten. Interessant ist, dass die meisten Ausleger in V. 39 das „καὶ“ auslassen: Maria saß auch … Hier wäre die Frage, auf wen sich das „καὶ“ bezieht? Wenn es sich auf Martha bezieht, dann sind beide Rabbinerschülerinnen! Außerdem wird in diesem Vers „ἣ καὶ παρακαθίσασα παρὰ τοὺς πόδας τοῦ Ἰησοῦ …“ beschrieben, dass Maria keineswegs passiv dasitzt, sondern als aufmerksame Schülerin eines Rabbiners angesehen wird (vgl. Apg. 22,3).
Diskussionen gibt es um die Fassung V. 41: Die Form τυρβάζῃ („du bist besorgt“) wurde in Nestlé-Aland mit θορυβάζῃ wiedergegeben. Die wörtliche Übersetzung ist dann: „Martha, Martha, du bist um vieles besorgt und beunruhigt. V. 42 Eines aber ist nötig. Maria wählte nämlich das gute Teil aus, welches nicht von ihr weggenommen werden wird.“
Gedanken zur Predigt
Mir fiel dazu eine Szene nach einem Gottesdienst ein: Ein junger Mann berichtete einer Gruppe von Gottesdienstbesuchern voller Begeisterung von seinem Sabbath-Halbjahr und seinen Pilgererfahrungen auf dem Jakobusweg. Einer der Umstehenden kommentierte dann etwas spitz: „Tja, wenn man sich das heutzutage leisten kann …?“
Könnte es nicht sein, dass hinter der Diskussion um die sogenannte „Generation Z“ viele „Marthas“ stecken, die zu wenig Mut für das „Not-Wendige“ haben? Überanstrengte Menschen, die sich auf Versäumnisse und Schuld anderer festlegen, das Letzte geben, aber dabei das Gespür für den „guten Teil“ verloren haben und gleichzeitig andere Lebensentwürfe nur schwer ertragen können?
Ich höre die befreiende Botschaft dieser kleinen Geschichte darin, dass Jesus Martha zur Ruhe einlädt. Für Martha ist die Zeit gekommen innezuhalten. Deshalb stoppt Jesus sie eben dort, wo sie fast vor einem Zusammenbruch steht – wo sie nur in ihren vermeintlichen Aufgaben gefangen ist. Da versucht Jesus ihr zu sagen: Lass es … komm! Setzt Dich hin!
Es geht darum sich zu entscheiden, auswählen zu können, für das eine oder für das andere. Jetzt! In diesem Augenblick geht es darum, zuhören zu können, sich Zeit zu nehmen. Den Mut zu haben, sich Gottes Nähe auszusetzen – auch, wenn ich nicht weiß, was daraus entsteht.
Jörg Zink beschreibt es so: „Mit dieser Entlastung oder Rechtfertigung ist gemeint, dass der Mensch durch eine Tür geht, für die nur ein Mensch schmal genug ist, der alles, was er in den Händen hatte, auf dem Rücken oder in der Faust, abgelegt hat. Er ist frei. Er ist willkommen.“3
Martha kann die Kochlöffel aus der Hand legen. Jesus lädt sie und uns ein zum Sein, das dem Tun voraus geht: zur Ermutigung, zur Aufrichtung, zur Heilung und zur Befreiung.
Anmerkungen
1 Meister Eckhart, Einheit im Sein und Wirken, hrsg., eingeleitet u. z.T. übers. v. D. Mieth, 1991 3, 156-169.
2 Hartenstein, J.: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/51980/.
3 Zink, J. in: Neuen, Ch.: Gelassenheit (Hg.), Düsseldorf und Zürich, 2004, 79.
Ursula Ziehfuss