Der an diesem Sonntag als Predigttext vorgesehene Abschnitt stellt eine lockere Verknüpfung verschiedener Begebenheiten dar, die der Verfasser der Apg. für berichtenswert hält: der Traum des Paulus mit jener Erscheinung eines Mannes aus Mazedonien; die Reise nach Philippi; die Begegnung mit den Frauen am Fluss; die Bekehrung der Purpurhändlerin Lydia.

Die einzelnen Begebenheiten fügen sich ein in den größeren Zusammenhang eines Reiseberichts über Paulus und seine Mitarbeiter, der in der Apg. dargeboten wird. Zugleich bildet der Abschnitt ein wichtiges Scharnier, weil er den Übergang der Missionsarbeit des Paulus von der türkischen Halbinsel Kleinasiens auf den europäischen Kontinent, beginnend mit Mazedonien und folgend mit Griechenland, beschreibt.

Für die Predigt bietet es sich an, sich auf einen dieser Brennpunkte zu konzentrieren. Dementsprechend unterschiedlich wären die Akzentuierungen.

 

Traum und Transzendenz

Paulus hat eine Erscheinung bei Nacht. Einen Traum? Ein Traumbild? Eine Vision? Traumgesichte bei Nacht sind eine weit verbreitete literarische Form, um einen Bezug zu Gott, den Empfang einer göttlichen Botschaft zu umschreiben. Paulus sieht in seiner nächtlichen Erscheinung einen Mann aus Mazedonien – möglicherweise trug er die dort übliche Tracht –, der ihn ruft: „Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!“ In welcher Sprache er redete, wird nicht berichtet; das ist auch unerheblich, denn in Träumen gibt es üblicherweise keine fremdsprachigen Verstehensprobleme.

Entscheidend ist hier die Klarheit, mit der das Traumgesicht als eine Weisung Gottes verstanden wird. Ein Traum als Ort des Transzendierens? Das bietet sich an. Träume, ganz gleich, wie man sie psychologisch interpretieren will, unterbrechen zunächst einmal den Zusammenhang unseres alltäglichen Kommunizierens und Interagierens, der einer bestimmten Logik unterworfen ist. Diese Logik ist vor allem intersubjektiv gefügt. Demgegenüber sind Träume in einem maximalen Sinn subjektive Angelegenheiten. Bisweilen sind sie so subjektiv, dass sie mehr persönliche Gefühle und Ahnungen andeuten, als dass sie sich in eine mitteilsame Sprache fassen ließen, wie sich an vermeintlichen Versuchen zeigt, ein Traumbild jemand anderem mitzuteilen: unter Umständen ist dies von vorneherein zum Scheitern verurteilt, weil wir die Aura des Traums nicht zutreffend zu beschreiben wissen.

Diese Alltagsdistanz eignet sich dazu, im Traum einen Ort des Transzendierens (was er de facto ist) oder auch einen Ort der Transzendenz (was er sein kann) zu sehen. Vom Vorgang des Transzendierens zur Erfahrung der Transzendenz ist es nur ein kleiner Schritt. Den können wir allerdings nicht selbstgesteuert gehen, sondern dorthin können wir uns nur tragen lassen – mit Hartmut Rosa gesprochen ist die Transzendenzerfahrung im Traum „unverfügbar“. Wir können jedoch Kriterien dafür angeben, wann wir von einer Transzendenzerfahrung sprechen möchten: wenn sie unsere übliche Sichtweise erweitert, uns Neues zeigt oder etwas neu verstehen lässt; wenn sie uns in einen beglückenden Zustand versetzt oder uns mit einem Abgrund konfrontiert, den wir eher geneigt sind zu verdrängen; wenn sie eine religiöse Qualität entbirgt.

Und all dies kann nicht nur in Nachtträumen, sondern auch in Tagträumen, in Phantasiereisen und in Imaginationen, in Meditation und Gebet geschehen. Die Predigt könnte dieser Spur einmal nachgehen und Schneisen des Transzendierens in dieser Zwischenwelt jenseits unserer Bewusstseinssteuerung eröffnen.

 

Frauen vor Flusslandschaft

V. 13 überrascht mich mit der Bemerkung einer Begegnung mit den Frauen am Fluss. Paulus und seine Mitarbeiter sind am Sabbat nicht in der Synagoge wie sonst, wenn sie einen ersten Anlauf- und Anknüpfungspunkt für die Verkündigung des Evangeliums an einem neuen Ort suchen. Sie gehen an den Fluss, „wo man zu beten pflegte“, und treffen dort auf Frauen aus dem Ort. Offensichtlich hatten die Frauen ihren eigenen Ort für diese Zusammenkünfte, getrennt von den Männern.

Überraschend – und natürlich auch angenehm überraschend – finde ich diesen ungehemmten Zugang, den Paulus und seine Mitarbeiter hier suchen. Sie überschreiten gesellschaftliche und kulturelle Barrieren, ja behandeln die Frauen als Ansprechpartnerinnen auf Augenhöhe. Vielleicht gelingt dies auch deshalb so gut, weil sich unter den Mitarbeitern des Paulus eben auch Mitarbeiterinnen befinden, von denen wir freilich ansonsten wenig erfahren in der Apg.

Für mich zeichnet sich aber bereits hier (ebenfalls wie in dem nachfolgenden Abschnitt mit Lydia) ab, was zu einem grundsätzlichen Charakteristikum der frühen Kirche gehört: die Frauen spielen in ihr eine ganz selbstverständliche und bisweilen auch tragende Rolle. Das ist etwas, was in den nachfolgenden Jahrhunderten, in denen sich die Kirche zu einer Männerdomäne ausbildete – jedenfalls, was die meisten Ämter in ihr anbelangt –, vielfach vergessen wird und erst in unserer Zeit wieder stärker in den Blick rückt: das Gesicht der Kirche ist weiblich. Wieviel Initiative und Engagement in unseren Gemeinden geht auf Frauen zurück? Und wie sehr sind Frauen dann auch repräsentiert in leitenden Aufgaben und Gremien? Es könnte lohnenswert sein, auch darüber einmal in einer Predigt nachzudenken – würdigend, fragend, hinterfragend.

 

Purpurevangelium

Das Evangelium, das Paulus und seine Mitarbeiter*innen in Philippi verkünden, fällt vor allem bei Lydia aus Thyatira auf fruchtbare Ohren. Sie ist Purpurhändlerin, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Beruf, der einiges an Selbstbewusstsein, Organisationskraft und Kreativität verlangt, zumindest wenn es hier so ausgestellt erwähnt wird. Und wahrscheinlich hat Lydia, die zugleich als Hausvorstand gekennzeichnet wird, durch ihren Beruf auch einen gewissen Wohlstand erlangt. Sie wird damit zugleich zu einer bedeutsamen wirtschaftlichen Basis der weiteren Missionsbewegung auf dem Kontinent.

Was mich an dieser kleinen Bemerkung interessiert, ist der Zusammenhang des Purpurstoffes mit dem Evangelium. Purpur war ein ausgesprochen wertvolles und teures Färbemittel für Stoffe. Ich phantasiere: Mit der Purpurkraft erhält das Evangelium eine besondere Ausstrahlung, eine ästhetische Einfärbung, eine Schönheit und einen Glanz. Das könnte in einem Gottesdienst und einer Predigt Anlass genug sein, einmal über die Kunst in unseren gottesdienstlichen Räumen nachzudenken und sie zu schätzen, angefangen bei den Paramenten, über – so vorhanden – Bilder und Plastiken oder Skulpturen, bis hin zum Blumenschmuck. Oder – warum nicht: mit einem Blick auf die Klangfarben, die unsere gottesdienstliche Evangeliumsverkündigung einkleiden und akustisch erlebbar machen.

 

Peter Haigis