Keine Liebe auf den ersten Blick

Es würde mich sehr interessieren, ob diejenigen, die bei der Perikopenrevision für die Aufnahme dieses Abschnitts aus dem Buch „Kohelet“ votiert haben, jemals irgendwann selbst über diesen Text gepredigt haben.

Auf den ersten Blick erschließt sich hier nichts: Es scheint so zu sein, als wolle der „Prediger“ angesichts eines zerbrochenen Tun-Ergehen-Zusammenhangs (V. 15) zu einem zynischen Lebenswandel aufrufen. Nicht zu gerecht sein, nicht zu weise, denn das könnte einen in dieser so gar nicht von Gott gelenkten Wirklichkeit teuer zu stehen kommen (V. 16). Aber auch nicht „allzu gottlos“ (Also nur ein bisschen Gottlosigkeit? Wie viel darf es denn heute sein?) und kein Tor, denn sonst könnte einen der frühe Tod ereilen. Man fragt sich nach V. 15: wieso denn das? Und dann der merkwürdige Rat aus V. 18: am besten von allem ein bisschen, also etwas gottlos und töricht, aber auch etwas gerecht und weise – nicht zu viel und nicht zu wenig eben.

Gepriesen sei das Mittelmaß! Freilich nicht im Sinne eines Königswegs, sondern im Sinne trivialer Mittelmäßigkeit. Da fällt mir Milos Formans „Amadeus“ ein, wo am Ende der vom Genie Mozarts gedemütigte Salieri in der Irrenanstalt zum großen Lob der Mittelmäßigkeit anhebt.

 

Kritik der zynischen Vernunft

Auf den ersten Blick scheint – will man überhaupt eine Logik in diesen Zeilen vermuten – ein gewisser Zynismus das Regiment zu führen. Und das passt zu einer oberflächlichen Kohelet-Lektüre, die derlei Zynismus auch anderswo am Werke sehen könnte, z.B. in der Summe des berühmten Liedes von der Zeit (Pred. 3).

Doch der „Prediger“ ist keineswegs ein Zyniker. Dafür leidet er zu sehr an den Missständen dieser Welt und redet zu oft von Gott in einem anerkennenden Sinn – und Gott ist nicht zynisch, auch bei Kohelet nicht.

Die Schwester des Zynismus ist die Ironie. Zynismus ist boshaft, Ironie erhellend. Doch gesetzt den Fall, hier wäre etwas ironisch zu verstehen: Wo beginnt diese Ironie und wo endet sie? Die vorangehenden Verse (V. 13f) wirken keineswegs ironisch. Beginnt die Ironie also mit V. 15, so stellt sich die Frage: Wodurch ist sie motiviert? Und dann: Wo endete ein solch ironischer Unterton? V. 18a scheint ja noch ein Gipfel ironischer Einfärbung zu sein, aber V. 18b wirkt wieder gänzlich unironisch. Es passt einfach nicht zusammen. Und vor allen Dingen: Wenn schon ironisch, was wäre denn die „unverkleidete“ Botschaft dahinter?

 

Falsche Selbsteinschätzungen

Dennoch scheint die Spur der Ironie in eine gewisse verheißungsvolle Richtung zu führen: weniger im Sinne der klassischen Ironie selbst als mit einem parodistischen Unterton versehen. Den Schlüssel hierfür bieten die Verse, die von der Perikopentrennung abgeschnitten wurden, m.E. jedoch unbedingt hinzuzunehmen sind: V. 20-22. Hier fügt der „Prediger“ eine weitere realistische Beobachtungsweisheit an, neben der ersten in V. 15f. Es ist in dieser Welt nicht nur so, dass Gerechte keineswegs wohlhabend, alt und lebenssatt sterben müssen, während die Gottlosen ein früher Tod ereilte. Vielmehr muss eine nüchterne Betrachtung eingestehen, dass es „die Gerechten“ schlechthin nicht gibt und dass – gezeigt am Beispiel des seinen Herrn verfluchenden Sklaven – es auch mit der Bosheit relativ scheint, zumindest wenn man ehrlich genug ist, auf die eigenen Fehltritte zu schauen.

M.a.W.: Menschliches Leben ist ein corpus permixtum. Menschlich allzumenschlich ist es, dass sich in ihm Gutes und Übles, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Weisheit und Torheit, Glanz und Trübungen mischen. Schon aus diesem Grund der Uneindeutigkeit der Welt und menschlichen Lebens müssen Deutungen, die mit klaren Unterscheidungen operieren, scheitern, z.B. der Zusammenhang von Tun und Ergehen. Welches Ergehen folgt hier eigentlich auf welches Tun? Das ist die Frage.

Wenn es aber niemanden gibt, der schlechthin „gerecht“ oder „gut“ zu nennen wäre (vgl. Mk. 10,18), dann gibt es auch keinen Grund, sich selbst seiner großen Gerechtigkeit und Weisheit zu rühmen. Das könnte schnell einer Entlarvung oder der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die Frage in V. 16b wäre genau so zu verstehen: Was willst du dich mit deiner Anmaßung zugrunde richten, weil du gewiss deinen eigenen Ansprüchen gegenüber nicht bestehen könntest? Und damit wird auch die Klage „ungerechten Leidens“ zumindest fragwürdig, wenn man daraus eine Art Tauschhandel mit Gott stricken wollte.

Entsprechendes gilt für die Gottlosigkeit – als ob es einen Grund gäbe, sich deren zu rühmen. Ist das Ergehen desjenigen, der sich blasphemisch gibt, nicht genauso kontingent wie dasjenige eines jeden anderen? Der „Prediger“ will sagen: Macht aus alledem kein System, weder in der einen Richtung noch in der anderen. Die Weltwirklichkeit will so nicht verrechnet werden. Das geht nicht auf!

 

Gottvertrauen

Wie also dann? Die Zumutung steht in V. 18: Ja, auch der Gottlose kann im Recht sein; dann nämlich, wenn er sich gegen eine allzu einfache Aufrechnung von „Gut-Sein“ und „Gut-Leben-Können“ – um in der Diktion von Bertolt Brechts „Gutem Menschen von Sezuan“ zu sprechen – stellt. Gegen eine solche Logik gibt es immer genügend Gegenbeispiele. Aber daraus ist kein Atheismus zu basteln. Denn es gibt auch die Erfahrung eines Segens, der mit irdischem Wohlbefinden zusammengeht. Wer wollte es schon mit welchem Recht einem frommen Menschen absprechen, dass er seine Gesundheit, seine erfüllenden Beziehungen, ja seinen Lebensstandard einfach Gott dankt?

Doch umgekehrt wird man daraus keinen Appell zum selbstsüchtigen und ungerechten Leben machen dürfen. Überhaupt, die Frage nach Gerechtigkeit sollte nicht davon motiviert sein, was ich dafür bekomme, sondern davon, was Gerechtigkeit in ihrem Wesen ist, nämlich der faire Ausgleich zwischen Menschen unterschiedlicher Lebensbedingungen, Begabungen und Startchancen.

Derartige Moral, die auf einen engen Zusammenhang von Tun und Ergehen setzt – so herum wie so herum – ist immer moralinsauer. Stattdessen empfiehl Kohelet die Gottesfurcht – ich nenne es „Gottvertrauen“ – als Haltung im Blick auf die letzten Fragen menschlichen Lebens. Denn wenn wir uns unser irdisches Glück schon nicht verdienen können, obgleich wir an ihm arbeiten dürfen, was wollen wir dann im Angesicht unserer eigenen Endlichkeit (die so gewiss ist wie das Amen in der Kirche!) vorzeigen und vorbringen. Wir stehen da wie Bettler – das ist wahr! Aber Gott vermag uns die Hände auch dann zu füllen, wenn uns die Welt entgeht.

 

Peter Haigis