Entscheidende Erstbegegnungen am Brunnen

Der Jakobsbrunnen als Ort und die Begegnung zwischen Jesus und der Samaritanerin ist eines der besonders bildhaften und vielschichtigen Motive aus dem Evangelium. Die Bibel erzählt von entscheidenden Erstbegegnungen am Brunnen: Isaak und Rebekka, Jakob und Rahel, Mose und Zippora lernen sich dort kennen.

Jesus lässt sich nach einer ermüdenden Wanderung in der Mittagshitze am Jakobsbrunnen nieder und begegnet der namenlosen Frau. Nicht von ungefähr kommt die Frau aus Sychar. Der Name Sychar bedeutet: nicht fließend, verstopft, abgeschnitten von der Quelle, ausgetrocknet.

Bei der am gleichen Ort Jahrhunderte vorher geschehenen Begegnung zwischen Jakob und Rahel heißt es: „Als Jakob aber Rahel sah, trat er hinzu und wälzte den Stein von dem Loch des Brunnens.“ (1. Mos. 29,10) Da hat es also bereits eine Freilegung gegeben, die sich jetzt in anderer Weise wiederholt.

Im Spiegel der Begegnung mit Jesus erkennt die Frau ihre Lebenswirklichkeit. Zugleich erfährt sie die erfrischende und verheißungsvolle Berührung durch das „Lebenswasser“ Jesu.

 

Den inneren Quellen nachspüren

Einen Satz am Ende der Geschichte übersehen wir meist. Da heißt es: „Da ließ die Frau ihren Wasserkrug stehen.“ Sie braucht den Krug nicht mehr, da sie die Quelle in sich trägt. Jesus hat sie ihr gezeigt.

Ich würde die Hörer gern dazu anreizen, den inneren Quellen nachzuspüren. Was ist da im Fluss, was verstopft, gestaut? Was bedarf einer Freilegung?

Der Brunnen führt in die Tiefe. Er führt zum Wasser, zur Quelle. Er ist Ort der Wandlung. Die Märchen „Der Froschkönig“ und „Frau Holle“ geben davon Zeugnis. Sie erzählen vom Hinabstieg in eine Anderwelt und Wahrnehmung des eigenen „Schatten“. Auf dem Grund kann sich etwas klären und wandeln.

Und dann ist da die Zusage Jesu: „Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben sprudelt.“ So kann ich der Frage nachgehen, worin sich die Gabe des Wasser, das Jesus mir gibt, in meinem Leben zeigt. Ich frage mich auch: Gibt er mir das Wasser oder zeigt er es mir, weil es längst in mir ist, vielleicht wie ein verschütteter Brunnen?

Einen inspirierenden Gedankensplitter zum Brunnenmutiv bietet uns der Jesuit Alfred Delp, aufgeschireben zwei Monate vor seiner Hinrichtung durch die Nationansozialisten: „In uns selbst strömen die Quellen des Heiles und der Heilung. Gott ist als ein Brunnen in uns, zu dem wir zu Gast und Einkehr geladen sind. Diese inneren Quellen müssen wir finden und immer wieder strömen lassen in das Land unseres Lebens. Dann wird keine Wüste…“ (sein).

(Alfred Delp in: „Aufzeichnungen aus dem Gefängnis“, Herder, Freiburg 2019)

 

Stefan Wohlfarth