Persönliche Annäherung
Jugendbegegnung in Jordanien: barfuß im flachen, trüben Jordanwasser – von jordanischer Seite aus. Am anderen Ufer: die mir sehr vertraute israelische Fahne.
Flussaufwärts und Jahre später in Israel: Menschen aus aller Welt in Taufgewändern. Viele von ihnen mit kleinen Fläschchen in der Hand, um Wasser aus dem Jordan mitzunehmen. Heiliges Wasser? Auch christliche Identität hat am Jordan einen irdischen Haftungspunkt.
Kontext
Im Buch Josua laufen Erzählfäden aus dem Pentateuch zusammen. Endlich! Nur noch der Jordan trennt die Israeliten vom „Gelobten Land“. Männer, Frauen und Kinder müssen es gewesen sein, wie hätte es sonst weitergehen können mit dem Volk Israel? Sie werden schwer beladen gewesen sein; im Gepäck ihr ganzes Hab und Gut – und auch Erinnerungen. In ihren Gliedern steckt die Erinnerung an die Sklaverei, in ihren Herzen leuchtet die Rettung aus vielfältiger Not. Auch im „Gepäck“: Die Bundeslade („des Herrn der ganzen Erde“), und in ihr die in Stein gemeißelte Selbstvorstellung Gottes: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägypten geführt habe, aus der Knechtschaft. Die Zehn Worte der Weisung sind Worte der Freiheit, weil Gott selbst der Gott der Freiheit ist.
Landlose sollen endlich in ein Land kommen, und es sollte nicht schwerfallen, sich mit ihnen zu solidarisieren (zumindest dann, wenn für die Israeliten Gleiches gilt wir für alle Landlose). Bei der Predigt sollte darauf geachtet werden, dass es höchstwahrscheinlich keine kriegerische Invasion des Zwölf-Stämme-Volkes Israel ins Land Kanaan gab. Dennoch: an den nichthistorischen Akteuren Mose und Josua wird damalige politische (reale) Geographie sichtbar, die Zeit der indoeuropäischen Völkerwanderung. Eine vermutlich überschaubare Gruppe von Hirten und Bauern suchte Schutz im Bergland Judäas. Erst später entwickelt sich eine ethnische Identität heraus, die man als israelitischbezeichnen könnte (vgl. Wolffsohn, bzw. Finkelstein/Silberman).
Die Ätiologie der Jordanüberquerung erklärt, wie und warum das wurde, was ist. Sie erzieht und ist somit sowohl pädagogisch als auch politisch. Realpolitisch ebenso wie religionspolitisch. Schon zur Zeit ihrer Abfassung war sie nicht als Faktenbericht gedacht, sondern wurde in vielen Facetten (wissentlich) überdimensioniert. Was die Gewaltanwendung der israelitischen Akteure betrifft, so mahnt Michael Wolffsohn: „Frühhistorisch war sie fiktional, zeitgeschichtlich real und propagandistisch lassen sich beide vortrefflich sowohl antijüdisch als auch antizionistisch vermengen sowie verwerten.“
Der Predigttext: Gottes Wort im Jordan
Mögen manche in der Perikope wenig Leben finden und sie als „eigentümlich blutleer“ (Wagner-Rau) beschreiben, so stimmt gerade dies mich neugierig. Wer sich empathisch auf den Text einlässt, wird Zeugin von Großem – von Weltgeschichte.
Die Szene am Jordan beschreibt Großes, ruft Weltgeschichte ins Bewusstsein, auf der Textebene, aber auch in den Geschichtsbüchern und an Politikertischen der Gegenwart (vgl. Wolffsohn). Das Volk soll sich vorbereiten, heiligen. Was heißt das? Waschrituale? Versöhnungsgesten? Gebete? Dienend tragen die Priester (nicht die Leviten, wie an anderen Tagen, vgl. Ein Yaakov) die Bundeslade vor dem Volk her. Keine Kriegsschau, kein Truppenaufmarsch, keine Waffenschau, sondern eine feierliche Prozession wird inszeniert. Israel begeht einen Gottesdienst und strebt nicht nach politischer Machterweiterung. Es übt religiöse Pflicht gegenüber seinem Gott aus. Mit der Bundeslade, mit Gottes Wort in der Mitte findet der Einzug ins Land Israel statt; das Wasser staut sich, „die Natur hält den Atem an“ (Krochmalnik), um zu zeigen: Gott ist mit den Israeliten und keiner kommt an seinem Wort vorbei. Seine Gebote sind Wegweisung für ein Leben in Freiheit. Der Moment gleicht einer Theaterszene: „Freeze“, bei der ich durchaus meinen Puls schlagen hören kann. Alles bleibt stehen, nur ein Lichtspot weist auf die Bundeslade. Solche Momente des Innehaltens, solche Gottesdienste brauchen auch Christen, um sich an Gottes Verheißung zu erinnern – für das Volk Israel und für seine ganze Welt.
Von Josua zu Jesus
Ein zweiter Lichtspot (später und flussaufwärts) auf zwei Männer im Wasser: Johannes und Jesus (Schriftlesung: Mt. 3,13-17). Der Himmel öffnet sich, eine Taube flattert herab. „Freeze“. Und auch hier Gottes Wort in der Mitte des Flusses.
Der Jordan ist Grenzfluss und Wendepunkt jüdischer und christlicher Identität. Hier geschehen „rites des passages“. Die Israeliten lassen die (äußere) Gefangenschaft hinter sich und ziehen mit Gottes Wort in die Freiheit. Christen werden in der Taufe aus ihrer inneren Gefangenschaft (der Sünde) befreit. Wer durch Gottes Geist getrieben wandelt, lebt als Gottes Kind (Wochenspruch: Röm. 8,14). Der Jordan ist lebendig machendes Wasser. An ihm wird der Übergang zu einem neuen Leben sichtbar – im Wort Gottes. Wer „über den Jordan geht“, lebt, auch wenn er stirbt.
Jugendliche im Blick
Der Gang durchs Schilfmeer wird Jugendlichen bekannt sein. Das Wechselspiel mit den Namen Josua und Jesus könnte Lust zum Theologisieren machen. Theologisch interessant ist die doppelte Perspektive auf die Befreiung aus der Sklaverei und auf die Befreiung von der Sünde. „Freeze“-Momente können auch für Jugendliche zu einem besonderen Moment werden, wie ich das in einem Jugendgottesdienst vor einiger Zeit erlebt habe.
Die Predigt kann gut erzählerisch gestaltet werden: Erschöpfung, jahrelange Wanderung, Mose nicht mehr bei ihnen, viele Menschen, auch Kinder… und dann: Priester, Gottes Wort in der Bundeslade, über den Jordan gehen wollen, endlich ankommen, aber (Freeze!): Hört erst einmal zu! Heiligt Euch! Denkt über Euch nach! … und dann: Seht her! Auch Jesus stand dort im Jordan (mit dem Bußprediger Johannes). Gottes Wort im Jordan bei Josua, bei Jesus und auch für uns.
Lieder
EG 70,1.2 „Wie schön leuchtet der Morgenstern“
EG 165 „Gott ist gegenwärtig“
EG 168 „Du hast uns, Herr, gerufen“
EG 202 „Christ unser Herr, zum Jordan kam“
EG 295 „Wohl denen, die da wandeln“
EG 395 „Vertraut den neuen Wegen“
EG 603 (Württ.) „When Israel was in Egypt’s Land“
„Gemeinsam auf dem Weg“ („Wo wir dich loben“ plus (Wwdl+) 140)
„Wasser des Lebens“ (bei Taufen; Wwdl+ 209)
Literatur
Daniel Krochmalnik, Ein Land für die Torah, in: ZfBeg 2/3, 2019
Michael Wolffsohn, Die Erste Landnahme. Das Buch Josua, in: Aspekte der Bibel. Themen, Figuren, Motive, Hans-Joachim Simm (Hg.), Breisgau 2017
Ulrike Wagner-Rau, Wie es sein könnte, in: Predigtstudien, I 2018/2019
Ein Yaakov: https://v1.hebrew-bible.com/en/midrash/Joshua.3.11
Linde Wenzlaff