1. Was dieser Text nicht ist

Verneinte Aussagen sind schwierig, ich weiß. Dennoch möchte ich sie hier voranstellen, damit wir wissen, womit wir es zu tun haben:

Den zum Teil mit unerträglichen Gewaltbeschreibungen verbundenen Geschehnissen des Buchs Josua liegt kein ähnlich geartetes historisches Geschehen zugrunde. Es geht hier nicht darum, irgendeine kriegerische Gewalt als Gottes Willen zu erklären. Dieses Buch ist ein Beispiel für die im Exil und der frühnachexilischen Zeit erarbeitete sog. deuteronomistische Theologie, für die Thora-Gehorsam und ausschließliche Verehrung JHWHs die Bedingung, ja der Garant, für Erfolg und Wohlergehen war (V. 8). Dass mit weiteren Erfahrungen auch weitere Wirklichkeitsdeutungen hinzukamen, lässt sich innerhalb des AT erkennen.

Das bedeutet für die Auslegung dieses Textes keine Einschränkung – in der jüdischen Tradition ist das Josuabuch kein Geschichtsbuch (diese irreführende Kategorie kennt der Tanach nicht), sondern das erste Buch der Neviim, der Propheten. Es bildet den Anfang der sog. „Vorderen Propheten“; es spricht weniger von geschehenen Dingen als von der Absicht Gottes mit seinem Volk.

Ob uns diese Betrachtung leicht(er) fällt, müssen wir sehen…

 

2. Transition

Zur Auswahl dieses Textes für den Neujahrsmorgen hat sicher beigetragen, dass wir es hier mit einer Übergangsgeschichte zu tun haben, die als solche zum Jahreswechsel passt.

Das Volk Israel steht vor der Überquerung des Jordans und dem Einzug in das verheißene Land. Der alte Führer, Mose, ist gestorben, und mit ihm die Wüstengeneration, also diejenigen, die den Auszug aus der Sklaverei selbst erlebt haben. Nach den 40 Jahren Wüstenwanderung steht nun die Erfüllung der Verheißung vom eigenen Land unmittelbar bevor. Damit beginnt eine völlig neue Phase der Geschichte: das in zwölf Stämme gegliederte Volk soll von Josua die Siedlungsgebiete zugewiesen bekommen (V. 6), in denen es fortan leben wird.

Übergänge, Transitionen, sind längerfristige Prozesse, die eine Anpassungsleistung erfordern: es gilt, Altes zu verabschieden und loszulassen und sich Neuem mit seinen Herausforderungen zu stellen. Josua ist nicht Mose, das Sich-Niederlassen erfordert andere Fähigkeiten als die Wanderung, Ackerbau und Viehzucht sind andere Arbeit als das Sammeln von Manna… Egal, wie ersehnt, erhofft, erwartet etwas ist – das zu leben will gelernt sein. Übergänge haben ein hohes Entwicklungspotenzial für den Einzelnen und die Gemeinschaft – wenn sie gelingen.

Diesen Neubeginn so zu leiten und zu begleiten, dass er nicht zur Krise wird, ist der Job des Josua. Dreimal wird ihm gesagt, er solle stark und mutig sein: das ist kein Selbstläufer! Nach hinten ist er gesichert durch die Wiederholung der göttlichen Verheißung, die ihm genauso gelten soll wie Mose. Vor ihm liegt der Auftrag und über diesem die Zusage der göttlichen Gegenwart. Dass dies nicht immer bedeutet, dass alles gelingen wird, hatte das israelische Volk zur Zeit der Abfassung des Textes bereits tiefgreifend erlebt: im babylonischen Exil.

Ein Neujahrstag ist ein weniger einschneidendes Ereignis, aber er kann pars pro toto für die Bewältigung anderer Übergänge stehen, mit denen wir konfrontiert sind in einer sich wandelnden Kirche und Gesellschaft. Auch wir brauchen die Fähigkeit, bisher Gewohntes wahrzunehmen, wertzuschätzen – und dann das loszulassen, was für die neue Situation keine Hilfe mehr ist. Der Januar ist nach dem doppelgesichtigen Janus benannt, der nach hinten und nach vorne schaut …

 

3. Zukunft

Auf der anderen Seite des Übergangs liegt – die Zukunft. Sie ist unvermeidlich – am östlichen Jordanufer stehen zu bleiben, ist keine Option. Weitermachen wie bisher ebensowenig. Den Satz „Das haben wir immer so gemacht“ hat einmal jemand als letzten Satz der sterbenden Kirche bezeichnet. Ich hoffe, es fällt uns mehr dazu ein!

Zukunft1 ist das, was vor uns liegt und was wir gestalten können und müssen. Es ist die einzige Zeit, die wir durch unser Handeln beeinflussen können.2 Dafür brauchen wir Vorstellungen, Visionen, Prophetien. Um diese entwickeln zu können, greifen wir auf Elemente der Vergangenheit zurück, aber auch auf Informationen über die Gegenwart und auf kreative Vorstellungskraft, um etwas Neues zu machen. Zukunft ist nicht das, was irgendwann tatsächlich eintritt, sondern ein individueller, kreativer, imaginärer und sinnlicher Prozess in der Gegenwart, bei dem quasi ein Hologramm einer zukünftigen Realität erzeugt wird (…) Diese Fähigkeit bildet die Grundlage für wichtige menschliche Eigenschaften wie Erwartungen, Entscheidungen, Vorlieben und freier Wille.3

Am Beginn eines neuen Jahres die vor uns liegenden Herausforderungen – zu denen ja noch weitere hinzukommen können, die wir noch gar nicht kennen – und die uns gestellten Aufgaben als zu gestaltende Zukunft kreativ anzugehen – das liegt vor uns. Ob es dabei um individuelle Themen oder um gemeinsame Aufgaben wie Umweltschutz, Gleichstellung, Integration neuer Menschen oder die Zukunft von Kirche oder Gemeinde geht: ein Hologramm einer zukünftigen Realität erzeugen …

 

4. Halleluya

Es gehört zum Menschen, dass er für seine geistige und psychische Gesundheit ein gewisses Maß an Selbstwirksamkeit braucht – und diese Selbstwirksamkeit ist angesichts großer politischer Fragen nicht immer gegeben. Mit allen mentalen Kniffen und auch mit dem Herunterbrechen der Fragen auf kleine Themen: angesichts des Gaza-Konflikts oder des Ukraine-Krieges, mit Blick auf Afghanistan oder Subsahara fühlen wir uns macht- und hilflos.

Wie können wir hiermit umgehen, ohne in Resignation oder Zynismus zu verfallen?

Mich beeindruckt hier immer wieder der kanadisch-jüdische Dichter und Singer-Songwriter Leonard Cohen (1934-2016), der sein gesamtes Leben lang in allem mit seiner jüdischen Tradition umgegangen ist. Als ein für ihn typisches Zitat empfinde ich dies: When you see the world and you see the law of brute necessity which governs it, you realise that the way you can reconcile this vale of suffering – the only way you can reconcile it to sanity is to glue your soul to prayer.4

Es ist nicht die Antwort auf die quälenden Fragen, in der die Erlösung liegen würde – die gibt es oft genug nicht. Es ist das Aushalten – im Angesicht Gottes. You look around and you see a world that is impenetrable, that cannot be made sense of. You either raise your fist – or you say Halleluya. I try to do both.5

Auch das jüdische, das israelische Volk hat vieles erlebt, dem kein Sinn beigelegt werden kann, ohne zynisch zu werden. Vielleicht können wir von einem, der seine jüdischen Traditionen ein Leben lang hin- und hergewendet hat, lernen, unbeantwortbare Fragen auszuhalten. Sie nicht zu umgehen, nicht wegzuerklären, nicht fromm zu überkleistern, nicht mit einem infantilen „der liebe Gott wird’s schon wissen“ abzubügeln. Sondern unsere Seele an das Gebet zu kleben (glue). Unlösbar verbunden bleiben mit Gott auch und gerade angesichts all dessen, was dem widerspricht. So verstehe ich V. 9: „lass dir nicht grauen – mit dir ist der HERR, dein Gott …“

Halleluya ist kein Kirchenlied – sondern ein Moment des Begreifens, wie hart das Leben sein kann.6

 

Anmerkungen:
1 Zu diesem Abschnitt vgl. Florence Gaub, Zukunft. Eine Bedienungsanleitung, 2023.
2 A.a.O., 37.
3 A.a.O., 35.
4 Zitat aus dem Film: Hallelujah. Leonard Cohen, a journey, a song (2021); dt. Untertitel im Film: Wenn man die Welt betrachtet, und die Brutalität der Logik, die sie regiert, dann merkt man, es gibt nur eine Möglichkeit, wie man trotz dieses Tales des Leidens irgendwie bei klarem Verstand bleiben kann: seine Seele dem Gebet anzuvertrauen. – Ebenfalls auf dieser Linie liegen etliche seiner letzten Songtexte, z.B. You got me singing.
5 Ebenfalls aus dem o.g. Film.
6 B. Carlisle im o.g. Film.

 

Dörte Kraft