Eine brutale Szene
Kurz nach himmlischem Jubel und staunender Freude über die Geburt des göttlichen Kindes wird uns eine grausame Geschichte zugemutet. In der Kunst werden vom Kindermord in Bethlehem brutale Szenen gemalt (z.B. Mosaik in Santa Maria Maggiore, Peter Paul Rubens und Lukas Cranach der Ältere): erschlagene Kinder und verzweifelte Mütter. Gewalt, Blut und Entsetzen lassen Empörung wachsen und Wut auf die Verursacher dieses Leids. Die Zahl der auf Befehl des Herodes getöteten kleinen Jungen wurde zunächst auf Tausende geschätzt, dann wegen der dünnen Besiedlung der Gegend korrigiert auf sechs bis zwanzig. Heute wird die Historizität in Frage gestellt, der jüdische Historiker Flavius Josephus und auch die anderen Evangelien erwähnen sie nicht. Es ist eine Legende, die die Brutalität des Herodes und seine Ablehnung in Israel wachhält. Sie erzählt außerdem, dass eine Flucht ins Nachbarland Ägypten Leben gerettet hat.
Die Kindermordlegende führt fort eine Reihe von Erzählungen früherer Fluchten und der Treue, mit der Gott zu den Geflüchteten und Gefährdeten steht. Josef hilft seinen Brüdern in ihrer Hungersnot, sie kommen nach Ägypten (Gen. 42-46); das Kind Mose wird von der Tochter des Pharaos gerettet (Ex. 2,1-10). Mit der Aufnahme des Zitates in Mt. 2,15 aus Hosea 11,1 („Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“) wird die Rettung des Jesuskindes erzählt als Geschichte Gottes, der sich um sein Kind sorgt. Dies muss keinesfalls exklusiv auf Jesus bezogen werden: „Die Wörter wie ‚Sohn‘ bleiben Kollektivbegriffe, immer bezogen auf ein Volk, dessen einzelne Menschen messianisch handeln … Sie wenden sich ab von ihren Verstrickungen und brechen auf in das verheißene Land“ (Schottroff, 132).
Abgründige Tiefen
Mt. 2,17-18 widmet sich mit einem Zitat aus Jer. 31,15 der Klage über verschleppte und getötete Kinder. Jeremia prophezeit das Exil, beklagt das Schicksal derer, die ins Exil gehen mussten und beschreibt eine Zukunft, die Gott weiterhin für das Volk geben wird. Rahel ist die klagende und trauernde Stammmutter. Rama ist ein Sammelplatz der Gefangenen (Jer. 40,1). Erinnert wird untröstliches Leid und durch den Bezug auf Jeremia auch die Hoffnung auf ein Ende des Leidens und Gottes Fürsorge für die Vertriebenen und Flüchtenden. Mitten in finsterer Gewalt wird diese durch Worte gebändigt.
Sind es nicht oft allein biblische Worte, die unaussprechbarem Elend ein Gegenüber geben? Hören wir zu, wenn eine Mutter in Israel/Gaza/Libanon ihr Kind nur noch tot in den Armen halten kann? Halten wir es aus, wie im Sudan ein Vater sein Kind in den Hungertod wiegt? Finden wir Worte für das ekelhafte Entsetzen über Kindesmissbrauch, der das Leben der Kleinen zerstört. In diese abgründigen Tiefen begibt sich Gott mit Jesus bereits ein paar Tage nach der Geburt.
Was in Mt. 2,15 bereits angekündigt wurde, wird in Mt. 2,19ff erzählt. Der Engel verkündet den Tod des Herodes und fordert Josef auf, mit Kind und dessen Mutter zurückzukehren. Das Misstrauen gegenüber der königlichen Herrscherfamilie bleibt. Josef misstraut dem Sohn des Herodes und geht nicht zurück nach Bethlehem, sondern nach Nazareth. Hier geht das Leben weiter.
Fluchtgeschichten
Matthäus stellt an den Anfang der Lebensgeschichte Jesu die Geschichte einer Flucht aus politischen Gründen. Der Weg in ein anderes Land kann notwendig und lebensrettend sein. Die Geschichte einer Flüchtlingsfamilie wird als Geschichte einer Rettung weitererzählt. Haben wir als Christinnen und Christen also das Recht und die Pflicht, uns an Geschichten von Flucht abzuarbeiten?
In diesem Jahr 2024 habe viele Politikerinnen und Politiker beschlossen, sich auf Kosten geflüchteter Menschen zu profilieren. Geflüchtete werden schnell kollektiv unter Verdacht gestellt und abgelehnt. Da eine Fluchtgeschichte eine unserer Glaubensgeschichten ist, können wir z.B. im Gottesdienst am Sonntag nach Weihnachten Geflüchteten ein Gesicht und eine Stimme geben, in dem sie ihre Fluchtgeschichte erzählen können. Wer keine Geflüchteten einladen möchte, findet Fluchtgeschichten z.B. unter https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/fluechtlinge-erzaehlen
Lieder
EG 56 „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen“
EG 65,7 („Von guten Mächten wunderbar geborgen“)
Literatur:
Luise Schottroff, Der Anfang des Neuen Testaments. Matthäus 1-4 neu entdeckt. Ein Kommentar mit Beiträgen zum Gespräch, Stuttgart 2019
https://de.wikipedia.org/wiki/Kindermord_in_Bethlehem
Susanne Wendorf-von Blumröder