I. „Wir müssen draußen bleiben“
Heiligabend 2024. Ein Datum inmitten der Belagerung durch schlechte Nachrichten aus den Medien, die uns täglich mit Krisenbotschaften und -szenarien überspülen. Dazwischen die eine gute Nachricht, das Evangelium: „Gott ist (immer noch – oder wieder) da“ (vgl. Mk. 1,15).
Ich glaube, dass es neben der tagtäglichen und notwendigen Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Problemen menschlichen und irdischen Lebens in diesem Kosmos ein Recht auf Rückzug gibt – die Zuflucht an einen Ort, wo das Herz stark, die Seele gesund und das Leben neu werden kann. Gerade um der Kräfte willen, die uns sonst abverlangt werden. Ein Ort, an dem einmal außen vor bleiben muss, was sonst die Tagesordnung bestimmt. Nicht als Eskapismus, sondern als Survival-Training!
Welcher Ort könnte dafür geeigneter sein als der Heiligabend, und da insbesondere die Christnachtfeier?! Ich schlage dafür Meditationen zu 1. Tim. 3,16 vor (es darf ausgewählt werden).
II. „Geheimnis des Glaubens“
Der Text entfaltet ein Geheimnis, ein Mysterium. Geheimnisse werden entdeckt und in einem eng verbundenen Kreis geteilt. Sie werden nicht gelöst (wie Rätsel), sondern bewahrt. Sie werden umschrieben, bedacht, meditiert. In einem Geheimnis kann man sich bergen, in ihm lässt sich wohnen – vorübergehend, en passant, einkehrend, wie in der Hütte Gottes bei den Menschen.
„Geheimnis des Glaubens“ – wir kennen die Formulierung vielleicht aus der Abendmahlsliturgie. Dort eröffnet sie die sehende und schmeckende Verkostung der Freundlichkeit Gottes in Brot und Wein. Hier geht es deutlich weiter, umfasst die Kurzformel doch nichts weniger als Stationen, oder besser: Aspekte der Erscheinung Christi, also Gottes bei den Menschen in Jesus Christus.
Die einzelnen Zeilen des Verses, die metrisch komponiert sind, könnten ein frühchristliches Glaubensbekenntnis oder ein Hymnus sein. Man kann die Reihung verbal lesen: offenbart – gerechtfertigt – erschienen – gepredigt – geglaubt – aufgenommen, oder nominal: Fleisch – Geist – Engel – Völker – Welt – Herrlichkeit, oder eben in ganzen Sätzen. Die Zusammenstellungen mögen bereits einzelne Assoziationen freisetzen (z.B. „gepredigt“ und „geglaubt“ oder „Fleisch“ und „Geist“ oder „Welt“ und „Herrlichkeit“).
Wenn wir das Geheimnis des Glaubens, das hier umschrieben wird, als „Hütte Gottes bei den Menschen“ auffassen, dann hat diese Wohnung sechs Räume.
III. „… offenbart im Fleisch …“
„Fleisch“ (sarx) meint mehr als „Leib“ (soma): es geht um die menschliche Lebensrealität schlechthin, um die menschliche Existenz, in all ihrer Größe und Tragik. In jedem menschlichen Leben liegt ein Bündel aus Gaben, Chancen, Möglichkeiten, Grenzen, Defiziten … Jedes neue Leben beginnt damit – und entfaltet (entbindet) in seinem weiteren Verlauf einzelne Momente daraus. Das Kind in der Krippe, „in Windeln gewickelt“, kann dafür ein Symbol sein (s. z.B. https://www.evangelisch.de/inhalte/163776/22-12-2019/hintergruende-ueber-ein-oft-vergessenes-detail-aus-der-weihnachtsgeschichte-die-windel). Die Windeln sind Schutz und Lebenshülle, aber auch der Stoff, aus dem später Ent-faltung geschieht.
Teilt das gewickelte Christusbaby zunächst die menschliche Kultur, neu geborenes Leben zu empfangen, zu hegen und zu pflegen, so geht die Weihnachtsgeschichte (und auch der erste Aspekt des Glaubensgeheimnisses) noch weiter: In ihm, diesem neu empfangenen, schlichten Leben offenbart sich Gott. Ich übersetze das so: in ihm leuchtet die göttliche Lebenssonne auf – und weil Christus nicht nur unser menschliches Schicksal mit sich verbindet, sondern auch das göttliche Leben in ihm mit uns teilt, gilt diese Offenbarung auch unserem Dasein. In unserem „Fleisch“ leuchtet ein Schein göttlichen Lichtes auf; auch in uns schlägt der Funke Gottes Feuer, glimmt die Glut göttlichen Lebens und göttlicher Liebe.
IV „… gerechtfertigt im Geist …“
Die Rede vom Gerechtfertigtsein im Blick auf Christus verwirrt: Ist nicht er es, der uns rechtfertigt bzw. durch den wir gerechtfertigt werden? Welche Rechtfertigung sollte er nötig haben. Dieser Aspekt des Geheimnisses des Glaubens blickt auf das Skandalon des Kreuzes. Unter irdischen Maßstäben betrachtet war die Biografie des Jesus von Nazareth gründlich gescheitert. Die frühen Christen machten jedoch die Erfahrung, dass genau dieses (ab)gebrochene Leben mit seinem skandalösen Ende das Testat Gottes erhält: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Der Hauptmann unter dem Kreuz Jesu spricht es aus (Mk. 15,39). In ihm mischt sich die Stimme Gottes mit der Stimme eines Menschen. Die Vergangenheitsform („ist gewesen“) ist aus menschlicher Perspektive heraus verständlich, theologisch gesehen ist sie unsinnig: Gottes Sohn zu sein, ist nichts was einer zeitlichen Bedingung unterworfen wäre. Es gilt oder es gilt nicht.
Mit Christus gilt es aber auch für uns: wir sind mit ihm „gerechtfertigt“, so dass wir an Kindes Statt angenommen sind, ja „Gottes Kinder“ heißen dürfen (vgl. Joh. 1,12). Wo das „Fleisch“, unsere irdische Lebenswirklichkeit gegen uns zeugt und unser gelebtes Leben für einen Irrtum, einen Skandal, ja für verfehlt und nichtig erklärt, da tritt Gottes Zeugnis für uns ein.
V. „… erschienen den Engeln …“
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis gibt es einen kurzen Passus zwischen dem „gestorben und begraben“ und „am dritten Tage auferstanden“: „hinabgestiegen in das Reich des Todes“. Im Kirchenjahr ist der Karsamstag der Tag dieses Satzes; er wird in der byzantinischen Liturgie auf besondere Weise begangen.
Wir sind mit der dritten Aussage des Glaubensgeheimnisses also von Weihnachten über den Karfreitag zum Karsamstag fortgeschritten. Doch hier wird dieser „Zwischenzustand“ anders gefüllt: es geht nicht um das Reich des Todes, sondern um die himmlischen Sphären, in denen die Engel zuhause sind. Im Erscheinen unter bzw. gegenüber den Engeln bringt sich die Majestät des Gekreuzigten zum Ausdruck. Christus ist sozusagen der ultimative Bote Gottes. Was immer wir an Engelslehren und Engelsglauben in und mit uns tragen – keine Macht (auf Erden ohnehin nicht, aber auch nicht im Himmel) begleitet und bewahrt uns so, wie dies von Christus gilt. Mythologisch gesprochen wird er im himmlischen Thronsaal in alle Ehren und Würden eingesetzt.
Ich übertrage dieses Symbol auf meine Lebenswirklichkeit, in dem ich in jedem Zuspruch Gottes, in jeder Bewahrungserfahrung, in jeder Bitte um Schutz und Segen, in jeder Erfahrung von Kraft… mich an seinen, Christi Namen adressiert weiß.
VI. „… gepredigt den Völkern …“
Rudolf Bultmann hat die Formulierung geprägt, Jesus sei ins Kerygma hinein auferstanden. Dafür ist er vielfach gebasht worden. Er leugne damit die leibliche Auferstehung Jesu. Ich halte das für eine Fehldeutung. Wer das Osterereignis mit einer Rückkehr Jesu in die material-körperliche Kohlenstoffwelt verknüpft, hat nicht verstanden, was der Unterschied zwischen der Auferstehung und der Wiederbelebung eines Leichnams ist.
Es ist ausgerechnet Paulus, der in seinem berühmten Auferstehungstraktat (1. Kor. 15), zwischen einer materialen („verweslichen“) und einer andersartigen („unverweslichen“) Leiblichkeit unterscheidet. Leiblichkeit ist damit ein mehrdeutig schillernder Begriff, was nach Paulus’ Ausführungen zum sozialen Leib Christi (vgl. 1. Kor. 12) nicht verwundern sollte. Und es ist eben auch dieser Paulus, der die enge Verbindung von Auferstehung und Predigt aufruft (1. Kor. 15,12ff). Das macht deutlich, dass „Auferstehung“ oder „Auferweckung“ ein geistliches (man kann auch sagen: spirituelles) Ereignis ist und dass es zugleich das ist, was der christlichen Predigt Sinn und Bestand gibt. Wenn wir an diesem (geistlichen) Ereignis zweifeln, ist die Predigt hinfällig, sind die Worte dieser Predigt leer. „Nun aber istChristus auferstanden …“ (1. Kor. 15,20) – und zwar genau hinein in diese Predigt, ins Kerygma, in die christliche Verkündigung. In ihr lebt und wirkt er. Der verkündigte Christus ist der auferstandene Jesus!
VII. „… geglaubt in der Welt …“
Dass dieses Kerygma überhaupt Aufnahme findet in einer Welt, die von ganz anderen Nachrichten bestimmt wird (schon damals!), ist ein Geheimnis des Glaubens. Es ist eben Gottes Geist, der Glauben weckt und den Samen seines Wortes aufgehen lässt in den Herzen der Menschen.
Vielfach unterbelichtet bleibt dabei ein kleines Detail: dass ich vom Glauben angerührt bin, erkenne ich immer erst retrospektiv: Aus Glauben heraus erkenne ich mich selbst als Glaubenden. Der göttlich-geistliche Touch geht meiner Wahrnehmung, meiner Einsicht, auch einer möglichen Entscheidung meinerseits immer schon voraus. Nicht ich entscheide mich für Gott oder Christus (was für ein Irrtum des aufgeklärten Subjekts, das alles in seine Eigenregie nehmen möchte!), sondern ER entscheidet sich für mich, hat sich längst für mich entschieden.
VIII. „… aufgenommen in Herrlichkeit …“
Wenn wir den Durchgang durch dieses poetisch formulierte Geheimnis des Glaubens, durch die Räume der Hütte Gottes bei den Menschen, kirchenjahreszeitlich anschauen, so sind wir mit dem zuletzt Erwähnten beim Pfingstfest angekommen. Es bleibt die Station, die am Ende steht: am Ende des Kirchenjahres, am Ende menschlichen Lebens, am Ende der Zeiten. Wo irdische Zeitmaßstäbe aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich auflösen – bleibt Gottes Ewigkeit. „Aufgenommen in die Herrlichkeit Gottes“ – das gilt nicht nur jenem Jesus von Nazareth, dem Kind in der Krippe und dem jungen Mann am Kreuz samt seiner irdischen Existenz dazwischen, es gilt jedem und jeder von uns. Doch davon zu sprechen, dafür gibt es keine Worte, allenfalls Musik …
Beispiele: Passend zum Weihnachtsabend der festliche Schlusschoral „Nun seid ihr wohl gerochen“ aus J.S. Bachs „Weihnachtsoratorium“ (z.B. in einer rein instrumentalen Einspielung von German Brass,https://www.youtube.com/watch?v=qehVv3kASy4); oder etwas ausführlicher das dreisätzige „Gloria“ von John Rutter (https://www.youtube.com/watch?v=44Y-aZbqqA4); ebenfalls erhaben und dabei zugleich die Vergänglichkeit irdischen Daseins in Glanz verwandelnd Samuel Barbers „Adagio for Strings“ (https://www.youtube.com/watch?v=WAoLJ8GbA4Y); oder stimmungsmäßig vergleichbar, aber etwas schlichter im meditativen Ausdruck das „Adagio“ aus der „Gayaneh“-Suite von Aram Khachaturian (https://www.youtube.com/watch?v=tN7vYJpG3Jo).
Peter Haigis