Gott vergisst sein Volk nicht
Es handelt sich bei Jes. 9,1-6 um eine Heilszusage, die Jesaja selbst im 8. Jh. v. Chr. an die Bewohner des Nordreiches Israels richtet. Dieses Volk, dessen Königreich im Jahr 721 v. Chr. von den Assyrern eingenommen wurde, soll wieder Mut fassen. So hat der neue Spross aus dem Hause Davids eine ganze Reihe von Thronnamen: „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“ – alle Bestandteil einer Königsideologie, in der den Königen göttliche Attribute zugesprochen wurden.
Im Ursprung geht es also um nationale Hoffnung für Israel. Später, in der babylonischen Gefangenschaft, erinnerte sich das Volk an die zugesagte Verbundenheit und Liebe Gottes, die kein Ende haben soll. Noch später wird der Horizont erweitert: Israels Schicksal wird zum Symbol für die ganze Welt – jedwede Unterdrückung soll aufhören! Mit der Geburt dieses Kindes fängt so etwas wie eine Neuschöpfung an. Der angekündigte Davidide unterscheidet sich von allen anderen Königen dadurch, dass sogar die Macht des Todes durchbrochen wird. In der kommenden Welt werden alle Mächte der Unterdrückung ihr Ende finden und das Kind, das geboren wird, ist ein Symbol für diesen Neuanfang der Erde.
Hat der Text also im Rahmen des AT schon eine interpretatorische Ausweitung erfahren, so erkannte die Urgemeinde im Bild dieses Kindes die Konturen Christi. Für sie erschloss sich im Kind in der Krippe die volle Bedeutung des alten Textes. Der Sohn Josefs, des Mannes aus dem Haus Davids, ist derjenige, dessen Herrschaft qualitativ völlig anders werden wird als die Herrscher dieser Welt. Entscheidend ist: Gott „ist“ dieses Kind. Gott nimmt Menschengestalt an, und zu allen Menschen auf Erden sollen sein Friede und seine Liebe in diesem Kind kommen. Alle vier Evangelisten sehen in Jesus das Licht, das nach Jes. 9 in die Finsternis scheint.
Gott vergisst mich nicht
Weihnachten, die Kirchen sind voll, wie sonst nie – da kommt etwas, da kommt einer. Aller „Alle Jahre wieder…“-Routine zum Trotz, gehen die allermeisten Menschen mit Hoffnung zur Christvesper. „Den aller Weltkreis nie beschloss, der liegt in Marien Schoß; er ist ein Kindlein worden klein, der alle Ding erhält allein“. So singt die Gemeinde mit den Worten Martin Luthers. Die Bilder des Textes lassen etwas von diesen „allen Dingen“ erahnen: Die Freude über die Ernte mit ihrem Korn für das tägliche Brot. Sogar die Gaunersprache wird herangezogen in der Freude über „Beute“, die gemacht wird. An keinem Tag im Jahr wird soviel „Geschenke-Beute“ gemacht wie am Heiligen Abend.
Ja, es geht um die elementare Befriedigung von Sehnsüchten, die allen Menschen gemein sind: Nahrung, Befreiung von Unterdrückung und Gewalt, ausreichender Besitz für die Grundbedürfnisse des Lebens, Hoffnung für das neue Jahr und die Zukunft. Die überbordenden Bilder des Textes sollen anstecken: Heute ist für das Volk, dessen Grundstimmung Ende 2024 nicht gerade hell ist, Freude angesagt. Der Glaube, das Vertrauen auf Jesus Christus, schenkt Freude und neue Hoffnung auch und gerade dann, wenn so viel dagegenspricht. Der jenseits aller Zeit Existierende, macht sich uns bekannt in Raum und Zeit im Jahr 2024 der Zeitrechnung, die auf diesem Ereignis beruht. Und du, heute Abend hier in der Kirche, bist gemeint. Gott vergisst dich und mich nicht.
Das hat Paul Gerhardt, als Europa in Trümmern lag, geschrieben: „Da ich noch nicht geboren war, das bist du mir geboren und hast mich dir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden.“ Nicht nur die Gemeinde, die ganze Welt, ist gemeint – was ja an sich schon unfassbar ist, sogar ich bin gemeint. (Hier kann die Predigerin, der Prediger, ihren, seinen Namen und den anderer aus der Gemeinde nennen.) Gott vergisst, übersieht mich nicht. Schon von Mutterleib an bin ich von ihm gewollt – du weckst lauten Jubel. Ich stehe heute Abend an deiner Krippe und bringe dir, was du mir eigentlich gegeben hast: mein Leben. Vielleicht sogar eines, das „in tiefster Todesnacht“ ist. Getröstet und gestärkt in der Kirche, dem Haus des Vertrauens – jetzt fängt Weihnachten wirklich an.
Lieder
EG 23 „Gelobet seist du, Jesu Christ“
EG 37 „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“
Literatur
Manfred Oeming, GPM 88. Jg. 1999/11, 35-40
Jan-Christoph Borries