Abgeben oder annehmen?
Das junge Paar sitzt erwartungsvoll im Sprechzimmer. Ihr Kind hat seit der Geburt immer wieder Krämpfe. Gibt sich das wieder? Was steckt dahinter? Nach fünf Monaten und beim dritten Arzt wird klar: Es handelt sich um einen seltenen Gendefekt. Der kleine Micha bleibt schwerstmehrfachbehindert. Ob sie ihr Kind lieber abgeben möchten, werden sie gefragt. Abgeben in eine Pflegeeinrichtung. „Micha bleibt bei uns!“, sagt der Vater spontan. Die Mutter ist überglücklich. „Das war eine Liebeserklärung an unser Kind,“ sagt sie im Rückblick.
Als ich die Familie kennenlerne, ist Micha acht Jahre alt. Vieles im Alltag ist belastend, einer der beiden hat immer bei Micha geschlafen und ist am nächsten Morgen müde. Und zugleich sammeln sie unfassbar viele glückliche Momente miteinander und mit ihrem Kind. „Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ – das ist die Kernaussage des Predigttextes für den dritten Advent aus Röm. 15,4-13. Abgeben oder annehmen? Selten habe ich in einer solchen Klarheit erlebt, was das heißen kann.
Im Advent kann der Satz leicht ins Kitschige kippen: Wir denken an andere Menschen in unserer Nähe und wollen ihnen zu Weihnachten eine Freude machen. Das schlechte Gewissen wird lauter, die Spendenbereitschaft wird größer. Und dann noch ein frommes Bibelwort auf einer Grußkarte dazu – „Nehmet einander an“ – und es wird eine runde Sache.
Kulturelle und soziale Diskrepanzen
Zur Zeit des Apostels Paulus war das ein sehr konkreter Satz. Er hat ihn Mitte der 50er Jahre des ersten Jahrhunderts der jungen Gemeinde in Rom geschrieben. Das war eine kleine Gruppe, von ihrer Umwelt nicht besonders ernst genommen, von manchen als jüdische Sekte abgetan. Höchst unterschiedliche Menschen kamen da zusammen, jede und jeder mit einer eigenen Geschichte. Männer und Frauen verschiedener Herkunft, Juden und Heiden, Herren und Sklaven, vornehme Damen und arme Schlucker. Weil hier so unterschiedliche Kulturen, verschiedene Sprachen und Sitten aufeinandertrafen, war man selten einer Meinung darüber, wie denn nun Christen praktisch leben sollten. Gelten die jüdischen Bräuche jetzt auch für die christliche Gemeinde – wo Jesus Christus doch aus Israel kam und Jude war? Oder sind Christen anderer Herkunft frei in dem, was sie tun? In so manchen Fragen gab es Streit. Nehmt euch wahr, so verschieden ihr seid, aber zieht keine Grenzen! Setzt die Einheit dieser vielfältigen Gemeinde nicht aufs Spiel! So Paulus. Wo sonst, wenn nicht unter Christen, sollte sich die ganze kulturelle Verschiedenheit entfalten dürfen?
Offene Begegnungen
„Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat“ bekommt so eine persönliche und eine politische Dimension: Wie oft verstecken wir uns lieber, als offen zu zeigen, was uns bewegt. Mit dem „Fest der Liebe“ vor Augen, werden um des lieben Friedens willen Auseinandersetzungen vermieden. Das ist gut gemeint, aber wirkliches gegenseitiges Annehmen scheint doch etwas anderes zu bedeuten. Wer einander annehmen will, wird sich auch offen begegnen. Dazu muss ich eigene Wünsche und Vorstellungen äußern, für die anderen erkennbar sein, statt mich zu verstecken. Das geht, wenn ich weiß: Ich bin angenommen, ich darf der sein, der ich bin.
Die Evangelien erzählen davon, wie Gott sich in Jesus der Menschen annimmt – bedingungslos und ohne Vorbehalte. So wird die politische Dimension deutlich. Jesus hat keine Berührungsängste, wenn Arme oder Kranke seine Nähe suchen. Er hält sich nicht die Ohren zu, wenn Kinderstimmen laut sind. Er nagelt den Zöllner Zachäus nicht fest auf seine betrügerischen Machenschaften.
Wer sich so angenommen weiß, der wird auch in einem anderen Menschen zuerst ein geliebtes Kind Gottes sehen – nicht den Zugewanderten, die Langzeitarbeitslose, den Großverdiener, das Kind mit Behinderung. Deshalb wird Röm. 15,7 auch gerne beim Abendmahl zitiert. Wenn’s gut geht, stehen hier sehr verschiedene Menschen um den Tisch: Männer und Frauen, Alte und Junge, gut gestellte Leute und solche, die am Freitag noch die Tafel besucht haben, Menschen, die sich nahestehen, und andere, die sonst nichts voneinander wissen. Ihnen wird gesagt: Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob!
Titus Reinmuth