Zugänge
Sichtet man einschlägige Predigthilfen, kann man das Unwohlsein fast spüren, das die Autoren mit diesem Text aus dem lukanischen Sondergut hatten. Eine Autorin schlägt eine „ganz und gar diesseitige Auslegung“ vor (Katharina Krause, Predigtstudien VI/2 2023/24, 244ff); einer legt nahe, „ermutigende Aktivitäten anerkennend (!) zu benennen“ (Peter Bukowski, GPM 78/4, 507); ein anderer führt allen Ernstes eine Allegorese vor: „Wir sind der Feigenbaum. Gott ist der Besitzer des Weinbergs und Jesus ist der Weingärtner“ (Volkmar Gregori, Patoralblätter 11/2024, 915ff). Echt jetzt?
Theologisch stimmiger und für die Predigtarbeit fruchtbarer scheint mir ein Zugang im Zuge der neueren Gleichnisforschung zu sein, den Sabine Biberstein so zusammenfasst: „Gleichnisse können und wollen nicht einfach zur Kenntnis genommen werden. Indem sie vom Reich Gottes erzählen und dabei Leser und Hörerinnen in Deutungsprozesse verwickeln und zu neuen Einsichten führen, vermitteln sie ihnen das, was die neuere Sprachphilosophie als „disclosures“ bezeichnet, also Einsichten und Erfahrungen, die eine Vorstellung vom Weltganzen eröffnen und in denen Sinn und Orientierung aufleuchtet. Sie tun das in einer Weise, die in rein deskriptiver Sprache nicht möglich wäre.“ (S. Biberstein, Bibel und Kirche 2/2008, 67) Damit haben die Gleichnisse das Potential, den Leser „zu einem neuen, veränderten Wahrnehmen der Welt, der Wirklichkeit – und Gottes“ zu führen (ebd.).
Kontexte
Das Gleichnis, genauer: die Parabel vom Feigenbaum steht am Ende einer längeren Rede Jesu, die durch kurze Gesprächsphasen unterbrochen und gegliedert wird (Lk. 12,1-13,9). Wesentlich für das Verstehen dürften die im kurzen Gesprächsgang der V. 1-5 angesprochenen Themen sein: Es geht um Schuld, um Buße, um Umkehr und um Gericht – passend zum Buß- und Bettag, aber jenseits der homiletischen Großwetterlage, wie Thomas Klie (GPM 63/IV 2009, 487) pointiert zusammenfasst: „Der heilsame Ritus aus confessio und absolutio ist protestantisch ortlos geworden.“ Dadurch verschwindet das angesprochene Phänomen aber weder aus dem Text noch aus der Wirklichkeit. Und das Gleichnis eröffnet die Möglichkeit, sich dieser Einsicht neu zu stellen, indem man seiner Eigenlogik folgt.
Dabei fällt der krasse Perspektivwechsel auf, den Jesus vollzieht: Es geht ihm nicht um die Frage nach der fremden Schuld in der Vergangenheit, sondern um die eigene Schuldigkeit in der Gegenwart (vgl. Klie, 489). Es geht nicht um allgemeine Spekulationen über einen Tun-Ergehen-Zusammenhang, sondern um die Selbsterkenntnis der Lebenden (und Lesenden): Ich muss mein Leben verändern – und jetzt ist (noch) Zeit dafür.
Deutungsperspektiven
Im nächsten Abschnitt folgt die nächste Überraschung: Der als Subjekt gedachte Feigenbaum hat keine Frucht gebracht und damit seine Bestimmung verfehlt – deshalb soll er weg. Aber diese Verfehlung hat er nicht allein zu verantworten: Es könnte ja auch am Gärtner (wörtlich, aber verwirrend: Winzer) liegen. Schon diese Beobachtung bewahrt den Leser vor zu eindeutiger Zuordnung des Personals der Parabel. Wir als Lesende können offenbar beides sein: Der fruchtlose Baum, der zu Buße und Umkehr ermahnt wird, solange noch Zeit ist – und der Gärtner, der durch Fürsorge und Fürbitte anderen den Weg zu Buße und Lebensveränderung erleichtern kann und soll. Beide Aufgaben sind ineinander verschränkt. Und: Beide setzen voraus, das eigene Gottesverhältnis kritisch zu hinterfragen: Woran hänge ich eigentlich tatsächlich – und jenseits frommer Floskeln – mein Herz? Was trägt das für mein Glauben, Beten, Handeln aus? Welche Schuld gibt es da zu bekennen und welche Schritte sind zu gehen, solange noch Zeit ist – um Gottes, meiner selbst und der Mitmenschen willen?
Gestaltungselemente
Diese Frage platt im Gottesdienst zu beantworten, bliebe nicht nur hinter dem offenen Schluss der Parabel zurück, sondern würde auch die gerade zur Verantwortung ermutigten Hörerinnen und Hörer wieder zu Objekten der Belehrung verzwergen. Subjektive Beispiele in der Ich-Form oder offene Beicht-Elemente, etwa an Stationen, sind eher denkbar. Die Liedauswahl kann solche Einsichtsprozesse unterstützen (EG 230 „Schaffe in mir, Gott“; EG 235 „O Herr, nimm unsere Schuld“; EG 299 „Aus tiefer Not“ oder EG (Anhang Baden) 178 „Meine engen Grenzen“). Die Fürbitten, idealerweise im Gottesdienst spontan gesammelt, üben die Gemeinde in der Haltung des Gärtners.
Entscheidend ist bei alldem, die Hörerinnen und Hörer auf attraktive Weise in die Erzählung zu verwickeln, zur Deutung der eigenen Existenz zu befähigen. Wenn dieser Prozess dann in Er- und Bekenntnis eigener Schuld führt und zur Buße verführt, ist viel gewonnen – nicht zuletzt beim Predigenden selbst.
Steffen Groß