Leben und Sterben
Die Verse 7 und 8 (ggfs. mit V. 9) sind vor allem aus der Liturgie von Bestattungsfeiern bekannt und gehören dort gewissermaßen zum Standard. Damit kann auch ein Bezug zum „Volkstrauertag“ an diesem Sonntag gegeben sein. Die wenigsten Zuhörer dürften freilich die Einbettung dieser Verse in den Kontext des Röm. kennen. Die Eingangsverse der erweiterten Perikope machen deutlich, dass es bei dem geläufigen Zitat nicht nur um das Sterben in Christus, sondern vielmehr um das Leben in Christus geht – ja, der Zusammenhang suggeriert sogar, dass die übliche Verwendung dieser Verse im Kontext des Todes die eigentliche Pointe verfehlt: es geht hier weniger um eine „ars moriendi“ als vielmehr um eine „ars vivendi“.
Multi-Kulti in Rom, Korinth und anderswo
Manche Gemeinden, an die Paulus seine Briefe adressiert, lagen in antiken Metropolen im Römischen Reich – so in Rom, aber auch in Korinth. Verglichen mit heutigen Maßstäben handelt es sich – von Rom einmal abgesehen – eher um Kleinstädte. Ihr Metropolcharakter bestand stattdessen vor allem in der Durchmischung der Bevölkerung. Oftmals waren es Hafenstädte (Korinth, Thessalonich, Philippi/Neapolis), an denen internationale Handelsverbindungen bestanden, Menschen unterschiedlicher Herkunft lebten und arbeiteten, und unterschiedliche Religionen, Sitten und Traditionen aufeinandertrafen. Dies macht die damaligen Ausgangsbedingungen in begrenztem Maß unserer heutigen Situation vergleichbar.
Ernährungsgewohnheiten und kultische Kalender
Der einleitende Abschnitt der Perikope (V. 1-6) thematisiert zunächst verschiedene Ernährungsgewohnheiten und damit die Frage, was man essen darf und was nicht. Paulus hat das auch an anderer Stelle verhandelt, z.B. bei der Frage, ob es Christen erlaubt sei, Götzenopferfleisch, also fremden Göttern geweihtes Fleisch, zu essen (vgl. 1. Kor. 8). Es könnte sich aber auch um die Frage drehen, ob nur koschere Kost erlaubt ist, wie sie für Juden nach ihrer christlichen Taufe möglicherweise weiterhin selbstverständlich war. Die Frage nach dem rechten (christlichen) Umgang mit Speisevorschriften und -gebräuchen durchzieht die frühe Christenheit, wie an zahlreichen ntl. Belegstellen ablesbar ist (Mk. 7,15ff; Apg. 10,9ff; Gal. 2,11ff).
Als orientierendes Leitmotiv gilt Paulus das Prinzip der Freiheit, das sich auch schon auf dem sog. „Apostelkonzil“ durchzusetzen begann (vgl. Apg. 15). Dort ging es vordergründig um die Beschneidung von „Heiden“, doch zugleich standen andere religiöse Vorschriften der Thora auf der Agenda. Am Ende einigte man sich auf einen Minimalkonsens von Verbindlichkeiten (Apg. 15,28f). Dass hierzu das Essen des Götzenopferfleisches gehörte, zeigt, dass und wie die Diskussion weitergegangen ist: In Korinth gab Paulus diese Devise offenbar auf (wenn er sie denn jemals vertreten haben sollte) und band die Entscheidung darüber an das persönliche Gewissen sowie an gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt.
Ein anderes Beispiel aus den Eingangsversen sind Fest- und Feiertage, die offensichtlich aus dem „heidnischen“ Kalender herrühren, möglicherweise aber auch den jüdischen Sabbat oder bestimmte Fastentage betreffen. Auch diesbezüglich vertritt Paulus an dieser Stelle eine liberale Position. Lediglich im Gal. opponiert er gegen die Beachtung sog. „heiliger“ Zeiten oder eines Kultkalenders, weil er die christliche Freiheit bedroht sieht (Gal. 4,8-10). Man soll aus diesen Dingen kein neues Gesetz und keine Heilslehre machen und damit die in Christus geschenkte Freiheit relativieren – lautet seine Devise. Das Christentum ist auch später immer wieder offen mit derartigen Lebensgewohnheiten, also vorchristlichen Sitten und Gebräuchen umgegangen, die in der Volksfrömmigkeit tief verwurzelt waren: sie wurden eher „getauft“ als abgelehnt; das prominenteste Beispiel hierfür ist das Weihnachts- bzw. Christfest.
Musikfarben, sexuelle Vorlieben etc.
Heute könnte dieser Ruf zur Freiheit in anderen Bereichen des persönlichen Geschmacks relevant werden, etwa bei unterschiedlichen Musikfarben oder sexuellen Vorlieben. Wer will sich als Richter über scheinbar „dämonische“ Metalmusic oder über gleichgeschlechtliche Liebe oder Bisexualität erheben? Und mit welchem Recht? Gewiss, Paulus erinnert an anderer Stelle daran, dass es für alles Grenzen und auch (ethisch bedenkenswerte) Maßstäbe gibt (1. Kor. 10,23f), doch diese wären erst einmal zu finden, auszuhandeln und zu formulieren, bevor man mit apodiktischen Verbotstafeln hantiert. Die größere Herausforderung als eine peinlich genau überwachte Kasuistik dürfte es sein, das Freiheitsprinzip in unserer Zeit weiterzudenken und weiterzuschreiben… – mit Rücksicht auf das individuell geprägte Gewissen sowie in gegenseitiger Rücksichtnahme und Respekt.
Sanfter und harter Pluralismus
Wir leben in Zeiten eines sog. „Pluralismus“: Vielfalt, Diversität, differente Lebensentwürfe werden nicht nur geschätzt und respektiert, sondern auch gefördert. Das muss man aushalten lernen. „Pluralismus“ meint indessen nicht „anything goes“. Keine Gesellschaft kann auf der Basis vollständiger Beliebigkeit bestehen. Deshalb haben wir uns angewöhnt, einen „sanften Pluralismus“ von einem „harten Pluralismus“ zu unterscheiden.
Der softe Pluralismus – also „Pluralismus light“ – greift überall dort, wo Lebensgewohnheiten individuell ausgelebt und sozial verträglich abgestimmt werden können, ohne nachhaltige zwischenmenschliche Konfliktsituationen auszulösen. Das kann Zumutungen beinhalten, wie die gegenwärtige Divergenz an Ernährungsgewohnheiten zeigt, doch damit lässt sich leben. Liberalität, Toleranz, Respekt sind gefordert – auf beiden Seiten, manchmal auch Kompromissbereitschaft.
Pluralismus wird jedoch dort schwierig und konfrontativ, wo Alternativen einander ausschließen oder ethische Maximen berührt werden, z.B. bei der Praxis des Schächtens gegen das Tierwohl, oder wenn die Freiheit der Kunst politische Korrektheiten verletzt, oder wo Selbstbestimmung und Menschenwürde gegeneinander stehen. Und es gibt Positionen, die keine Toleranz verdienen (z.B. Rassismus und Sexismus). Die lassen sich auch durch keine Berufung auf die Meinungsfreiheit vertreten.
Political Correctness
Paulus empfiehlt seinen Adressaten in Rom, sich nicht gegenseitig zu richten, zu verurteilen, zu beurteilen oder zu verachten. Damit liegt er ganz auf einer Linie, die auch (post)moderne Gesellschaften prägt: Toleranz, Offenheit, Respekt. Es geht um Vorurteilsfreiheit, um einen Dialog auf Augenhöhe miteinander, um politisch korrekten Umgang untereinander und im Reden übereinander, um Zuhören und Verstehen, um das Zurückhalten und selbstkritische Hinterfragen von Bewertungen … In der Linie seiner Argumentation geht Paulus dabei nochmals über die Devise der Rücksichtnahme aus 1. Kor. 10,28 hinaus: nicht nur der „Schwache“ im Glauben wird zur Bewährungsprobe für den „Starken“, sondern auch umgekehrt.
Dabei hat Paulus hier nur den innergemeindlichen, innerkirchlichen Zusammenhang im Blick. Es geht ihm noch gar nicht um das große Ganze einer bunten Gesellschaft, sondern lediglich um die Vielfalt von Glaubens- und Lebensformen innerhalb der Gemeinde Jesu Christi. Und die ist schon bunt genug. Die vielen Farben der weltweiten Christenheit können spannend, bereichernd, aber auch herausfordernd sein. Während einer Äthiopienreise vor vielen Jahren wurde ich Zeuge einer gottesdienstlichen Handlung in einer der dortigen Felsenkirchen: ein Priester reinigte die Gläubigen, die zu ihm kamen, indem er sie mit einem Kreuz abrieb – auch eine Form der Sündenvergebung; für mich damals zunächst sehr befremdlich und theologisch fragwürdig – doch wer bin, dass ich darüber richte (V. 4).
Kosmischer Christus
Der Begründungszusammenhang, den Paulus aufbietet, mündet letztlich ein in einen christologischen Bezugspunkt. Alles ist von Christus her zu beurteilen und nicht von persönlichen Standpunkten aus. Das ist nicht nur ekklesiologisch konsequent (Christus als Herr seiner Kirche), sondern hat in der Tat eine öffnende ökumenische Dimension. Die Kirche ist – in der Vielfalt ihrer Gestaltungsformen und Lebensäußerungen – stets creatura verbi divini. Das ist ihr ultimativer Maßstab. Von hier aus gesehen hat das Prinzip der Inklusion von Verschiedenartigkeit Vorrang vor der Exklusion im Sinne irgendwelcher Reinheitsvorstellungen. Die „wahre Kirche“ wird aus dem Evangelium heraus gestiftet und empfängt von ihm her ihre Richtschnur. Daraus ergibt sich mit der Rede von Christus in unserer Perikope eine universale Perspektive. Bezogen auf den Kosmos des Lebens ist der Herr der Kirche ein „kosmischer Christus“.
Leben und leben lassen
Die Predigtperikope hat entspannenden und beruhigenden Charakter für Themen, die auf der Agenda der Gestaltung des Zusammenlebens von Gemeinden stehen. Sie empfiehlt zu leben und leben zu lassen. Sie lehrt, einen weiten Horizont wahrzunehmen, wenn es um die menschliche Beurteilung von menschlich bedingten Verschiedenartigkeiten geht. Lebensstile, Frömmigkeitspraktiken und Glaubensäußerungen können sehr unterschiedlich ausfallen und – aus den Tälern des Alltäglichen heraus angesehen – sich wie unüberwindbare Gipfel ausnehmen, aus der Perspektive Christi jedoch relativieren sie sich zu überschaubaren Hügeln, die einer ansonsten eher flach anmutenden Landschaft ein gewisses anmutiges Gepräge geben.
Lieder
EG 268 „Strahlen brechen viele“
EG 417 „Lass die Wurzel unsers Handelns Liebe sein“
Peter Haigis