I. Blick in den Text

Nachdem Mi. 3,12 Zion-Jerusalems Unheil verkündet hat, schlägt Mi. 4,1-8 einen heilvollen Ton an. Wir können annehmen, dass diese Wortsammlung exilisch-nachexilisch ist. In Jes. 2,2-4 finden wir eine Parallele zu Mi. 4,1-4.

Wir staunen über vier Ankündigungen, die den Blick für das Neue öffnen:
1. Der Tempelberg Zion wird alle Berge überragen (V. 1).
2. Die Völker und Nationen werden zum Zionsberg hinströmen, um Jahwes Weisung zu empfangen und auszuführen (V. 1c+2).
3. Jahwe schafft die Voraussetzung, die Krieg unnötig macht, und die Völker schmelzen ihr Kriegsgerät in Naturwerkzeuge, so dass niemand mehr Krieg vom Zaun bricht (V. 3).
4. Jeder wird in der freien, ungeschützten Natur sitzen (können), weil es keine Bedrohung mehr gibt – unter Weinstock und Feigenbaum als Ausdruck der Lebensfreude (V. 4).

Danach bringt V. 5 die Unerfülltheit zur Sprache: Während das Volk Gottes in der Spur Jahwes für immer und ewig wandelt (Selbstermutigung), gehen die Völker noch ihre eigenen Wege und huldigen ihren Göttern.

V. 6-7a, die nicht zu unserem Predigttext gehören, haben das Exilvolk im Blick und sind als Spruch Jahwes formuliert.

V. 7b bringt die Königsherrschaft Jahwes auf dem Berg Zion zum Ausdruck. (Mit V. 7b ergibt V. 6-7a erst in Mi. 4,1-8 einen Sinn durch den Zionbezug.)

V. 8 (außerhalb unseres Predigttextes) blickt auf die Restaurierung des irdischen Königtums in Jerusalem.

Nach der Gerichtserfahrung Zion-Jerusalems (Mi. 3,12) wird in Mi. 4,1-5.7b die neue Bedeutung Zion-Jerusalems für die Völkerwelt thematisiert. Die Völkerwallfahrt wird kombiniert mit der Heilsgabe erfüllten Friedens. Dieser ist von Jahwe herbeigeführt, nicht von Menschen. Dieses Reframing Jerusalems ist durch die Redaktion in drei Spruchthemen (V. 1-3) herbeigeführt.

Als christliche Gemeinde blicken wir durch Kreuzigung und Auferstehung Jesu nach Jerusalem. In Phil. 2,9-11 kommt dies so zum Ausdruck: „Deshalb hat Gott ihn auch über alles erhöht und ihm den Namen verliehen, der über allen Namen ist, damit im Namen Jesu sich beuge jedes Knie, all derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

 

II. Blick in die Welt

Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in seiner Rede im Bundestag am 27. Februar 2022 anlässlich des drei Tage zuvor begonnenen russischen Überfalls auf die Ukraine von einer „Zeitenwende“. Dieses Wort gebraucht Hans Walter Wolff in seinem Micha-Kommentar zur Übersetzung von Mi. 4,1: „Aber einst, in der Zeitenwende …“. Während der Ukrainekrieg einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Muster zeigt, öffnet sich in unserer Predigtperikope der Blick für eine allumfassend friedvolle Zukunft.

Krieg oder Frieden? Der russische Schriftsteller Marschak beobachtete einmal sechs- bis siebenjährige Kinder beim Spiel: „Was spielt ihr?“, fragte er sie. „Wir spielen Krieg“, antworteten ihm die Kinder. Daraufhin erklärte ihnen der Schriftsteller: „Wie kann man nur Krieg spielen! Ihr wisst doch sicher, wie schlimm Krieg ist. Ihr solltet lieber Frieden spielen.“ „Das ist eine gute Idee“, sagten die Kinder. Dann aber Schweigen, Beratung, Tuscheln, wieder Schweigen. Da trat ein Kind vor und fragte: „Großväterchen, wie spielt man Frieden?“ (Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten I, Nr. 152, 9. Aufl. 1987 Mainz).

Über den Krieg lässt sich im Allgemeinen leichter reden. Die Bilder des Krieges sind eindrücklicher: in der Ukraine, in Gaza, im Sudan und an vielen anderen Orten dieser Welt. Krieg ist schneller, leichter herbeiführbar als sicherer Frieden. Und seine Verwüstungen, Vernichtungen, Verletzungen, Traumata wirken weitaus länger nach. Auch dann noch über ungewisse Zeit, wenn der Krieg längst beendet ist. Im Grunde gibt es für einen selbst auch keine Garantie, von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont zu bleiben.

„Vati“, fragte Klaus, „wie entstehen eigentlich Kriege?“ „Ja, mein Junge, die Sache ist so: Nehmen wir mal an, England streitet sich mit Amerika über irgend etwas …“ Die Mutter unterbricht: „Rede doch keinen Unsinn, England und Amerika werden sich nicht miteinander streiten.“ „Das behaupte ich ja gar nicht! Ich will doch nur ein Beispiel anführen.“ „Mit solchem Unsinn verwirrst du dem Jungen nur den Kopf.“ „Was, ich verwirre seinen Kopf? Wenn es nach dir ginge, würde überhaupt nichts in seinen Kopf hineinkommen!“ „Was sagst du da? Ich verbiete dir, dass du …“ Da ruft Klaus: „Danke, Vater, jetzt weiß ich, wie Kriege entstehen.“ (Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten I, Nr. 166, 9. Aufl. 1987 Mainz).

„Schwerter zu Pflugscharen, Spieße zu Sicheln“, Brot statt Waffen, Bildung statt Rüstung. Das ist Sehnsucht, Traum, Hoffnung und erstrebenswertes Ziel zugleich. Völker und Nationen, die zusammenarbeiten. Gegen den Hunger, die Klimakatastrophe, die Kriegstreiberei. Unterschiedlichste Menschen, die offen füreinander sind. Die zum Miteinander, zur Kooperation bereit und fähig sind. Die aggressionsfreie Gemeinschaft ermöglichen. Frieden beginnt im Kleinen, Unscheinbaren, im eigenen Bemühen – das anstrengend und schweißtreibend wie das Umschmieden sein kann.

 

III. Blick in den Gottesdienst

Im Gottesdienst kommt die Gemeinde zusammen. Um sich im friedvollen Versammeln zu vergewissern. Um Gottes Weisung zu hören. Um sich ermutigen zu lassen, dass diese Weisung im persönlichen und gemeinschaftlichen Leben wirkmächtig werden kann. So dass Gott als die „Zeitenwende“ ausstrahlt in diese Welt. Die Suchende, Hungrige, Neugierige, Zweifelnde, Ratsuchende, Abgehängte, Ausgegrenzte herbeikommen lässt. Die ausstrahlt und bewegt, im Miteinander eine verheißungsvolle gerechtere Zukunft zu gestalten. Die ermöglicht, dass jeder und jede Einzelne in Freiheit und Sicherheit wohnen und genießen kann in lebensfroher Natur.

So schön die Verheißung aus Mi. 4 auch ist, so anders ist unsere Wirklichkeit! Wir leben im Blick auf diese Heilsverheißung, aber noch in unheilvollen Zusammenhängen. Wir sind nicht aggressionsfrei, sondern praktizieren Gewalt, Kampf, Streit, Machtspielchen und Feindseligkeiten. Wir kennen Rosen-, Familien-, Nachbarschaftskriege. Wir befinden uns in Auseinandersetzungen und Konflikten. Es gibt Eigeninteresse, Gegnerschaft, Angriff und Verteidigung. Doch tief in uns ist die Sehnsucht nach Harmonie, Wohlbefinden, Frieden unzerstörbar lebendig. Im ganz Großen ist der Frieden nach Mi. 4 Gottes Sache. Im Kleinen – im Hören auf sein Wort – ist es an uns, unsere Möglichkeiten zu praktizieren.

Jesus verheißt: „Glücklich sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen! Glücklich sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen.“ (Mt. 5,9+5)

Mit Rudolf-Otto Weimer gesprochen:

Die Zeitungen rufen die gute Nachricht aus.
Der Unterhändler weigert sich, den Krieg zu erklären.
Nicht krümmt sich der Finger am Abzug des Gewehrs.
Die zornige Hand findet das Messer nicht.
Zu explodieren verlernen die Bomben.
Die Generale haben sich zum Golfspielen entschlossen.
Das verleumderische Wort bleibt hinter die Lippen gepresst.
Diktatoren öffnen die Straflager.
Andersdenkende werden geachtet.
Die Rasse ist nichts als ein Unterschied in der Farbe der Haut.
In den Folterkammern wird Brot gebacken.
Galgen und Henkerbeil ziehen sich zurück ins Museum.
Gespräche über den Frieden haben Aussicht auf Erfolg.
Die Grenzen werden geöffnet.
Versuche, den Streit zu schlichten, gibt man nicht auf.
Man fängt an, die Wahrheit zu sagen.
Man lässt den Gegner zu Wort kommen.
Man schließt Kompromisse.
Man lächelt über sie.
Man fängt an.

(Rudolf Otto Wiemer, Wortwechsel. Wolfgang Fietkau Verlag, Berlin 1973)

 

Lieder

EG 395 „Vertraut den neuen Wegen“
EG 425 „Gib uns Frieden jeden Tag“
EG 426 „Es wird sein in den letzten Tagen“
EG plus 75 (Hessen-Nassau) „Da berühren sich Himmel und Erde“
EG 435 „Dona nobis pacem“ (Kanon)

 

Kurt Rainer Klein