Liturgischer Kasus

„Heilung an Leib und Seele“ ist das Thema des 19. So. n. Trin. Es ist GOTT, der heilt. Durch sein „Tragen“ und „Vergeben“ (2. Mos. 34,7.9) wird der Mensch (wieder) heil. Gottes heilsames Wirken bekennt der Wochenspruch mit Worten des Propheten Jeremia (Jer. 17,14): „Heile du mich, HERR, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.“

Vergebung im Namen Gottes spricht auch Jesus im Sonntagsevangelium (Mk. 2,1-12) aus: „deine Sünden sind dir vergeben“ (V. 5), und die Epistel (Eph. 4,22-32) legt den Menschen ans Herz, darauf zu antworten, indem sie einander vergeben (V. 32). Der Wochenpsalm (Ps. 32,1-7) preist den Menschen glücklich, dem die Übertretungen / Sünden / Schuld vergeben sind (V. 1-2).

„Du füllst des Lebens Mangel aus“ besingt Paul Gerhardt im Wochenlied das wunderbare Tun Gottes (EG 324,12; vgl. 2. Mos. 34,10). Des Menschen „Elend“ ohne Gott thematisiert Johannes Brahms (1833-1897) in seiner Motette „Ich aber bin elend und mir ist wehe“ (Jes. 24,16) und verbindet die menschliche Klage mit Gottes Offenbarung seiner Güte und Treue in 2. Mos. 34,6.

Voraus geht am 29. September 2024 der Tag des Erzengels Michael – sein Name bedeutet: „Wer ist wie Gott“ – und aller Engel. Wenn am 19. So. n. Tr. das Erntedankfest gefeiert wird, lädt Ps. 138,8 zum umfassenden Dank ein, der Gottes „ewige Güte“ und „das Werk deiner Hände“ preist.

 

Zur literarischen Abgrenzung der Perikope

Aus exegetischen Gründen empfiehlt sich, im Unterschied zur Perikopenabgrenzung die V. 1-3 und V. 28 miteinzubeziehen.

Zu V. 11-27, „Beachte genau, was ich dir heute gebiete…“: Nach der Ankündigung des Bundesschlusses, V. 10, folgen in V. 11 ein Aufruf Gottes an das Volk, genau zu beachten, was er ihm gebietet, und eine Gebotsreihe, V. 12-27 (vgl. 2. Mos. 20,2-17), in der die elementaren Forderungen/Gebote Gottes als Inhalt des Sinaibundes versammelt sind. Die V. 11-27, in denen sich JHWH an das Volk wendet, unterbrechen den Zusammenhang der Gottesrede an Mose, die in V. 28, der mit V. 1 korrespondiert, fortgesetzt wird und endet: Wie in V. 1 angekündigt schreibt JHWH „die Worte des Bundes“ / „die zehn Worte“ auf die von Mose noch einmal hergestellten zwei Steintafeln.

 

Die Perikope 2. Mos. 34,4-10 im weiteren und näheren Kontext

Zwei Monate nach der dramatischen Flucht aus Ägypten und der unverhofften Rettung am Meer (Kap. 14), endlich befreit aus menschenunwürdigen Verhältnissen, rechtlos, ausgebeutet, versklavt (Kap. 1-5), kamen sie in die Wüste Sinai und lagerten sich dort gegenüber dem Berg, der für sie zum denkwürdigsten Ort werden sollte (Kap. 19); denn dort erklärte sie JHWH, die befreiende und rettende Himmelsmacht, als sein Volk und gab ihnen, was sie zum Leben brauchen: die Tora, Gebote, Weisungen für ein gutes Leben in Liebe zu Gott und zu allen Menschen (2. Mos. 19f; 21-23; 24; 25-31). Gott schloss einen Bund mit ihnen, und sie erklärten: „Alles, was JHWH, gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören“ (2. Mos. 24,3).

Die Bedingung für die Beziehung zwischen Gott und Volk werden die Zehn Gebote/Worte (Dekalog, Kap. 20, vgl. das „Bundesbuch“, Kap. 21-23). Auffallend ist die dreimalige Verpflichtung des Volkes auf Gottes Willenskundgabe (2. Mos. 19,8; 24,3.7). Gottes Wille ist Israels herausgehobene Stellung unter den Völkern (2. Mos. 19,5 segulla / „Eigentum“;V. 6: „königliches Volk“) als „Modell für die Völkerwelt“ (J. Jeremias, 306) und damit dessen singuläre und unmittelbarer Nähe und Beziehung zu Gott. Kann Israel als Gottes Volk dieser Vorstellung Gottes entsprechen? Die dreimalige Verpflichtungserklärung des Volkes erscheint wie ein Aufraffen aller Kräfte gegen den Zweifel, Gottes Willen erfüllen zu können. Gott verheißt die Sonderstellung seines Volkes (2. Mos. 19,3-8) und besiegelt seine Verheißung mit einem Bundeschluss (2. Mos. 24,3b-8). Aber Gottes Plan kann sich nur realisieren, wenn sich sein Volk daran orientiert (2. Mos. 19,8 vgl. 2. Mos. 24,3). Gottes Bund war ganz von der Gegenseitigkeit Gott und Volk bestimmt (vgl. 5. Mos. 26,17f).

Das Versprechen und die Verpflichtung seitens des Volkes hielt nicht lange an. Noch war Mose auf dem Berg. Sein längeres Ausbleiben strapazierte die Geduld des Volkes, seine Unsicherheit führte zum Bruch des Bundes und zur Forderung eines Ersatzes für die Wegbegleitung durch die Wüste in das verheißene Land. Aaron folgte dem Willen des Volkes und goss aus dessen Schmuck das „goldene Kalb“, als Symbol der Erinnerung an die Befreiung aus der Sklaverei des eigentlich unsichtbaren – das Volk durch die Wüste in die Freiheit begleitenden – Gottes.

Gottes Enttäuschung über sein Volk und dessen „Halsstarrigkeit“ ist groß; sie ist so groß, dass er es im Zorn vernichten will, sich auch durch Moses Fürbitte nicht davon abhalten lassen und stattdessen Mose „zum (neuen) großen Volk“ machen will. Schließlich schafft es Mose doch, Gott von seinem Vernichtungsbeschluss abzubringen und sich seinem Volk von neuem zuzuwenden. 2. Mos. 32-33 spiegeln die Dramatik des Ringens Moses mit Gott. Gott hält an der Beauftragung Moses fest, das Volk in das „gelobte Land“ zu führen, schickt ihm (als Beistand) seinen Engel, der ihm vorausgehen soll, erklärt ihm aber, dass er die Sünde des Volkes „heimsuchen“ werde, „wenn meine Zeit gekommen ist“ (2. Mos. 32,33-35). Die Güte und Treue Gottes und seine Erneuerung des Bundes, jetzt einseitig von Gott allein ausgehend ohne Mitwirkung des Volkes, sind das Thema unserer Perikope 2. Mos. 34,4-10.

Die Perikope 2. Mos. 34,4-10 gehört in den engeren Zusammenhang der drei Kapitel 32-34, „Bundesbruch und Bundeserneuerung“, und in den weiteren Zusammenhang der „Sinaiperikope“ (Gottes Offenbarung, Gebote und Bund, 2. Mos. 19,1 - 4. Mos. 10,10); diese sind ihrerseits in die große Erzählung von Israels Weg durch die Wüste ins „Gelobte Land“ (2. Mos. 16 – Jos. 24) eingebettet. Literarisch ist die Sinai-Thematik als Erzählung anhand unterschiedlicher Traditionsströme und theologischen Gewichtungen gestaltet und ist bis zur Endredaktion mehrfach bearbeitet worden.

 

Gliederung / Aufbau der Perikope und Inhalt

V. 1-4:JHWH beauftragt Mose, zwei Steintafeln zu hauen, gleich den ersten, die Mose im Zorn über das Fehlverhalten des Volkes zerschmettert hatte (2. Mos. 32,19), und eröffnet ihm die Absicht, noch einmal die ursprünglichen Worte darauf zu schreiben (V. 1-2). V. 3 betont, dass Mose allein den Berg besteigen und Volk und Tier sich fernhalten sollten. V. 4 berichtet die Ausführung des Auftrags.

In V. 5-10 kommt es zur Begegnung JHWHs mit Mose (V. 5). JHWH offenbart sich ihm als „barmherzig und gnädig, ‚langsam zum Zorn‘ und von großer Güte und Treue“ (V. 6, vgl. Ps. 103,8). So präsentiert sich Gott Mose, indem er ihm „die innersten Beweggründe seines Handelns offenlegte“ (R. Albertz, S. 310). Gott „trägt (weg)“ (V. 6 נשׂא) Sünde (עָוֹן), Auflehnung (V. 6 פֶּשַׁע), Fehlverhalten (V. 6 חַטָּאָה) und expliziert zugleich sein Handeln in Gnade und Heimsuchung (V. 7). Mose reagiert darauf voller Demut (V. 8) und bittet JHWH, sein „halsstarriges“ Volk weiterhin zu begleiten, ihm zu vergeben (Mose spricht von „vergeben“, V. 9 סלח).) und dass es ihm auch in Zukunft angehören dürfe, „sein Erbbesitz“ bleibe (V. 8f).

Im jüdischen Gottesdienst hat der von dem Verbum סלח salach benannte Ritus der Selicha („Verzeihung“, „Vergebung“) seine Geschichte (vgl. Ps. 130,4): „Gott hat den Menschen die Sündenvergebung verheißen und ihnen den Weg gewiesen, auf dem sie sie finden können. Er hat sie das Bußgebet gelehrt, das niemals ungehört verhallt; auf das Wort ‚Hilf, o Gott‘ antwortet er, so oft wir ihn anrufen“; nach jüdischer talmudischer Auslegung von 2. Mos. 34,6.7 wurden Mose bei der Überreichung der zweiten steinernen Tafeln die dreizehn Merkmale Gottes (Middot) geoffenbart, die zum Kern aller Gebete um Sündenvergebung wurden (I. Elbogen, 221f). R. Albertz’ Bemerkung sei hier zitiert (313): „Seltsamerweise hat Ex 34,6-7 auf Seiten der christlichen Exegese und Theologie lange Zeit wenig Beachtung gefunden … Erst in jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die fordern, Ex 34,6-7 stärker in den Mittelpunkt einer Alttestamentlichen Theologie zu rücken“.

JHWH antwortet Mose auf dessen Bitte um Vergebung mit der Ankündigung eines (erneuten) Bundes (V. 10), den er aber – ohne verpflichtende Einbeziehung des Volkes – mit Mose allein schließen werde (vgl. 2. Mos. 32,10), und sein Volk und alle Völker sollen JHWHs wunderbares Tun an Mose sehen. Mose wird zum Mittler des Volkes: In dem an V. 28 anschließenden Passus 2. Mos. 34,29-32(35) hören wir, wie das Antlitz des Mose nach der Gottesbegegnung strahlend geworden ist und er damit zum irdischen Repräsentanten Gottes für das Volk aufsteigt. Damit garantiert Mose eine schonendere Form der Nähe Gottes (vgl. 2. Mos. 33,20!), was in V. 10 als das außergewöhnliche Wunder angedeutet wird.

V. 11: „Beachte genau, was ich dir heute gebiete…“ – Nach der Ankündigung des Bundesschlusses, V. 10, folgen in V. 11 ein Aufruf Gottes an das Volk, genau zu beachten, was er ihm gebietet, und eine Gebotsreihe, V. 12-27 (vgl. 2. Mos. 20,2-17), in der die elementaren Forderungen/Gebote Gottes als Inhalt des Sinaibundes versammelt sind. Die V. 11-27, in denen sich JHWH an das Volk wendet, unterbrechen den Zusammenhang der Gottesrede an Mose, die erst in V. 28 fortgesetzt wird und dort endet: „Und er blieb dort bei JHWH vierzig Tage und vierzig Nächte. Brot aß er nicht, und Wasser trank er nicht, und er (JHWH) schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte“.

Während Mose noch 40 Tage und Nächte bei JHWH war, schrieb JHWH, wie in V. 1 angekündigt, (noch einmal, vgl. 2. Mos. 24,12) „die Worte des Bundes“, die „zehn Worte“, auf die Tafeln (V. 28).

2. Mos. 34 bewegt die Frage, wie nach dem Bundesbruch des Volkes (2. Mos. 32) – nur kurze Zeit nachdem sich Gott auf dem Sinai offenbart hatte – die ursprüngliche Gottesbeziehung überhaupt noch fortgesetzt werden könne. Mit dem erneuten Bundesschluss (V. 10.28, vgl. V. 27) antwortet Gott auf Israels Abwendung und Schuld (2. Mos. 32). Gottes Vergebung geht jetzt seinem Bund voraus.

 

Homiletische Impulse

Der Text bietet eine Reihe von homiletischen Impulsen zur Auswahl, die verschiedene Predigtschwerpunkte ermöglichen:
– „in Stein gemeißelt“ (V. 1) – Verbindlichkeit
– „zerbrochen“ (V. 1) – Enttäuschung, zerbrochene Beziehung
– „am nächsten Morgen“ (V. 2) – die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages (J. Zink), ein neuer Tag beginnt (s. das gleichnamige Lied von M.G. Schneider)
– „sich bereit halten“ (V. 2) – nicht aufgeben, wachsam bleiben
– „auf dem Gipfel des Berges“ (V. 2) – ob ich ihn erreiche (?); ein Berg vor mir, er erscheint unüberwindlich, aber den Gipfel vor Augen wage ich den Aufstieg
– „keiner soll mit dir hinaufsteigen“ (V. 3) – ich muss den Weg allein gehen, aber GOTT geht mit
– „JHWH, JHWH, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue…“ (V. 6.7) – Gott „trägt (weg)“ (V. 6 נשׂא, ns‘, M. Luther übersetzt: „vergibt“; vgl. Joh. 1,29 „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“) Sünde, Auflehnung, Fehlverhalten. Schränkt V. 7 („der aber nicht völlig ungestraft lässt…“) Gottes Güte und Treue ein? Spricht sich darin die leidvolle Erfahrung seines Volkes aus? Die zentralen V. 6 und 7 regen an, sich mit der darin ausgesprochenen Offenbarung von Gottes Wesen zu befassen und sie mit unterschiedlichen (menschlichen) Gottesvorstellungen ins Gespräch zu bringen.
– „da kniete Mose nieder“ (V. 8 קדד qdd) – Demut vor Gott, Solidarität mit seinem „halsstarrigen“ Volk, Bitte um Vergebung (V. 9)
– „Wunder“ (V. 10) – keine Situation ist ausweglos – „In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über die Flügel gebreitet“ (EG 316,3). Gott greift ein, indem er Mose als Mittler / Repräsentanten Gottes für das Volk erklärt und eine schonendere Nähe zwischen Gott und Volk ermöglicht. Von hier aus kann auf die Heilsmittlerschaft Jesu geschaut werden. Falls diese Linie in der Predigt betont werden möchte, wäre noch 2. Mos. 34,29-32 einzubeziehen.

Homiletisch empfiehlt sich – der theologisch dichten Erzählung in 2. Mos. 34,1-10.28 vom Neuanfang Gottes mit seinem Volk folgend – eine narrative Predigt. Erzählen schafft Gleichzeitigkeit und Identifikationsmöglichkeiten mit vergangenem Geschehen; der „garstige Graben“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird überbrückt. Heutige Erfahrungen mit Tragen/Wegtragen, Verzeihen, Vergeben – anknüpfend an Erfahrungen des biblischen Israel – („Einer trage des andern Last…“, Gal. 6,2; siebente Bitte des Vaterunsers). „Gottes Zuwendung und Wegweisung bleiben über alles schuldhafte Versagen und alle unaufgelösten Knoten hinweg bestehen“ (Perikopenbuch, Leipzig 2018, zum 19. So. n. Tr.).

 

Literatur

I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Darmstadt 41962 (Leipzig 11913), 221-231; Martin Noth, ATD 5, Göttingen 41968, 212-220; Rainer Albertz, Exodus 19-40, ZBK AT 2.2, Zürich 2015, 301-324; Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 301-319.

 

Heinz Janssen