Das Hohelied der Sorglosigkeit?

Eine Perikope, die oft als Erinnerung gepredigt wird, dass das Sorgen, ja auch das Vorsorgen, wenig austrägt. Ist das so? Jedenfalls ist es eine Perikope, die (fast) alle direkt ansprechen dürfte. Denn das ist ja gerade das Besondere am Menschsein, dass wir um das Morgen und seine Gefährdungen wissen – und so nur selten sorgenfrei in den Tag leben können.

Leider verleitet die Perikope zu oft dazu, am Ende das Hohelied der Sorglosigkeit anzustimmen, weil Gott ja so gut für uns sorgt. Im Internet finden sich viele Predigten, die es sich mit einer frommen Abkürzung vielleicht ein bisschen einfach machen und das Sorgen nicht hinreichend ernst nehmen. Dabei sind die Sorgen, die wir alle teilen, gerade in der letzten Zeit wieder nach und nach größer geworden. Die multiplen Krisen zehren die Resilienz vieler auf. Nicht wenige müssen zudem mit den persönlichen Nöten zurechtkommen.

In der Diakonie, in der ich arbeite, haben wir täglich mit Menschen zu tun, die von schweren Sorgen gedrückt werden. Ich denke an Eltern, deren Kinder so schwer erkrankt sind, dass die ganze Familie täglich um ihr Leben bangt. Ich denke an Obdachlose, die sich nachts vor Übergriffen fürchten und für die jeder Tag ohne Netz und doppelten Boden seine eigene Last hat. Ich denke an die, die durch Krankheit und Lebenswege, die sie nicht selbst gewählt haben, aus der Bahn geworfen wurden und nicht mehr zurückfinden.

Nein, es fällt mir schwer, Jesu Rede zu folgen. Auf jemanden zu hören, der nicht für eine eigene Familie sorgen musste, der keine Verantwortung für einen Betrieb oder Unternehmen wahrnehmen musste, kein Amt trug, das ihm aufbürdete, täglich für’s Morgen zu sorgen.

 

Varianten im Umgang mit dem Sorgen

In den Predigten, die ich aufsuchte, gibt es verschiedene Varianten mit dem Problem des Sorgens umzugehen: Einige entwickeln eine Ethik des Handelns. Wo wir füreinander sorgen, werden die Sorgen kleiner. Andere relativieren und verweisen darauf, dass die Sorgen der Anderen womöglich größer sind. Eine dritte Gruppe verschiebt den Fokus: Das wirklich Wichtige im Leben kann nicht durch Sorgen erreicht werden. Reinhold Niebuhrs Gebet um die Gabe und Gnade der Unterscheidung von veränder- und unveränderbaren Dingen kommt dabei immer wieder zur Sprache.

Auch der Verweis auf Gottes Sorge für Blumen und Vögel, kann mich heute nicht mehr überzeugen. Fauna und Flora geht es nicht besonders gut. Ihre Widerstandsfähigkeit hängt nicht an ihrer psychologischen Konstitution, sondern ganz real von Umständen ab, die sie nicht beeinflussen können. Läge heute der Umkehrschluss nicht näher: Wenn Gott schon nicht für die Natur sorgt, um wieviel weniger für euch? Nicht gerade ermutigend. Und die rhetorische Frage Jesu hilft auch nicht weiter. Natürlich tragen Sorgen nicht zu einem guten und gesunden Leben bei. Wer wüsste das nicht?

 

Aus dem Käfig der Notwendigkeiten ausbrechen

Die einzige Trumpfkarte, die Jesus ausspielen kann, ist seine besondere Weisheit. Und offensichtlich hat seine Rede von den Lilien, Feldblumen und Vögeln Menschen aller Zeiten erreicht und Erleichterung geschenkt. Seine Logik ist – jedenfalls für mich – so einsehbar, dass ich all meine Widerstände gegen seine Rede revidiere.

Hinschauen. Hinsehen. Das ist sein Appell an die, die ihm zuhören. Das Hinsehen und Hinschauen auf das Blühen der Blumen, das Grün der Wiese, das Blau des Himmels reißt für einen Moment heraus aus dem Sinnieren. Ohne Zeit schafft man das nicht. Man muss sich schon zwingen, aus dem Käfig der Notwendigkeiten auszubrechen. Das Korsett abzulegen, das verspricht, dass es hält und trägt. Das einen aber zeitlich und emotional so einzwängt, dass man darunter wissentlich leidet. Ohne die bewusste Entscheidung für einen Moment der Unterbrechung. Für einen Blick zum Himmel.

Das Eintauchen in die ganz andere Welt der Natur, die von einem fast ewigen Wissen um Werden und Vergehen bestimmt ist, macht es möglich, wenigstens für einen Moment die Sorgen hintanzustellen oder im besten Falle sogar für Augenblicke zu vergessen.

Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang den Worten von Papst Johannes XXIII., der sich in seinem Dekalog der Gelassenheit zum Beispiel vornimmt, Aufmerksamkeit schenken: „Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“

Jeder weiß: Die Sorgen sind bald wieder da. Aber die Seele hatte einen göttlichen Moment der Erholung, der dazu führt, dass man mit neuer Kraft den nächsten Wegabschnitt ein bisschen besser bewältigen kann. Und wo die Kraft reicht, gehört dann auch der Einsatz für und mit den Nächsten für Gottes Reich und seine Gerechtigkeit dazu.

 

Markus Eisele