M’illumino d’immenso – Ich erleuchte mich mit Unermesslichem (Giuseppe Ungaretti)

 

Das „Heiligkeitsgesetz“

Der Predigttext gehört zum sog. „Heiligkeitsgesetz“ in Lev. 17-26 und umfasst Gebote zum Sozialverhalten der Israeliten, die an den Dekalog erinnern. Das Heiligkeitsgesetz wird von der neueren Forschung der priesterschriftlichen Pentateuch-Redaktion zugeordnet. Verschiedene Merkmale zeigen, wie darin vorexilische Gesetzessammlungen wie Bundesbuch und Deuteronomisches Gesetz weiterentwickelt werden. Insbesondere werden die Rechte von Fremden (Lev. 19,33f) aufgenommen, und alle Israeliten, auch Besitzlose, Tagelöhner, Sklaven und Halbbürger, gelten als Adressaten der Thora (Lev. 25,35ff).1 Die Autoren stammen aus der Jerusalemer Priesterschaft, Frauen sind wahrscheinlich nicht beteiligt, jedoch werden sie als Laiinnen durch das Hebräische näfäsch (Seele, Kehle, Leben) mit angesprochen.2

Die zentralen Herausforderungen für die Predigt liegen darin zu klären, was es bedeutet, „heilig“ zu sein, und inwiefern es relevant ist. Über dem ganzen Text schwebt in Lev. 19,2 das „tremendum et fascinosum“3, also das ebenso erschütternde wie Neugier weckende Anderssein Gottes: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.“

Während wir heutigen Menschen darüber rätseln, wie wir dieser schwer fassbaren Qualität entsprechen könnten, gibt der Text für seine Zeit darauf eine sehr konkrete Antwort: „Ihr seid heilig, wenn ihr meine Gebote einhaltet.“ Selbst wenn wir diese Auslegung auch für uns heute akzeptieren sollten, würde unsere zweite Frage dadurch nur umso größer: Warum sollte es für uns relevant sein, heilig zu werden? Die Setzungen einer höheren Macht zu befolgen, erschließt nicht unser Menschsein.

 

Begegnung mit dem Heiligen

Wir müssen also anders ansetzen und fragen, was wir in der Begegnung mit dem Heiligen lernen.Genau betrachtet geht es um zwei existentielle Erfahrungen, und zwar 1. die performative Herausforderung durch das Unermessliche (die Begegnung mit dem Heiligen bewirkt Selbsterkenntnis und Selbstwirksamkeit); 2. die Konfrontation mit dem Unermesslichen (die Begegnung mit dem Heiligen bewirkt Anerkenntnis von Relationen und Grenzen).

Konkret geben die Gebote aus Lev. 19 Orientierung, wie wir uns so verhalten, dass sowohl die Gemeinschaft reifen kann als auch jeder einzelne zu seinem erfüllten Selbst findet: Indem wir unsere Nächsten lieben wie uns selbst und die Fremdlinge als gleichberechtigte Wesen behandeln. Dadurch breiten wir selbst das Leuchten in der Welt aus, das uns zum Tun des Guten bewegt hat. Wenn wir uns auf das Wohl unserer nahen und fernen Nächsten ausrichten, so verspricht es Lev. 19, werden wir selbst am Unermesslichen Anteil haben.

Oft erliegen wir Menschen dem Missverständnis, als sollten wir dies alles aus uns heraus schaffen. Der Druck, der daraus entsteht, macht eng und rechthaberisch. Alle klassischen Konzepte der „Heiligung“ atmen diesen Ungeist. Heutige Menschen haben mehrheitlich nicht mehr diesen Anspruch. Jedoch verlieren sie mit der ethischen Erwartung an sich selbst meist auch das Gespür für das Heilige überhaupt. Dann verliert ihre Welt das Leuchten und ihre Gemeinschaft den Zusammenhalt. Ohne das Leuchten des Heiligen und die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit jedoch versiegt die Kraft zu handeln.

Ziel der Predigt müsste es sein, die hörenden Menschen durch luzides und fantasiereiches „Liebmachen des Heiligen“ mit diesen Zusammenhängen vertraut zu machen und sie vor zwei Übeln zu bewahren: vor der Lieblosigkeit, für nichts mehr verantwortlich zu sein, und vor der auslaugenden Hybris, ständig selber leuchten zu müssen.

 

Anmerkungen

1 Theodor Seidl, „Heiligkeitsgesetz“, in: www.die-bibel.de/ressourcen/wibilex/altes-testament/heiligkeitsgesetz, Januar 2009 (Zugriff: 30.6.2024).

Thomas Hieke, Levitikus. Erster Teilband: 1-15. Übersetzt und ausgelegt. Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Herder, Freiburg u. a. 2014.

3 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Trewendt & Granier, Breslau 1917.

 

Antje Fetzer-Kapolnek