„… den glimmenden Docht wir ER nicht auslöschen.“

Gerade hat die Kirchenälteste die Kerzen wieder ausgeblasen. Zum Gottesdienst in der Dorfkirche ist außer uns beiden niemand gekommen. Keine Seltenheit in Mitteldeutschland, der Blick in die Sarkristeibücher zeigt, dass das seit über 50 Jahren immer wieder vorkommt – mit steigender Tendenz!

Der Synagogenvorsteher (den wir uns entweder als Mäzen oder als jemanden, der sich um das Leben in der Gemeinde kümmert vorzustellen haben1) hatte andere Sorgen: In seinen Augen brachte der Gastprediger aus Nazareth alles durcheinander. Statt das Wort Gottes auszulegen, also mit seinen Worten zu aktualisieren, ruft er eine verkrümmte Frau, die sich weit hinten oder auf der Frauenempore befunden haben wird, nach vorne. Untergräbt er damit nicht etwa den Feiertag, der doch von Gott geboten ist? Und haben Frauen im Bereich, der den Männern vorbehalten ist, überhaupt etwas verloren. Die letzte Frage wird nicht thematisiert. Aber die Tatsache, dass Lk. 13,10-17 in der vorigen Perikopenordnung nicht vorkam, lohnte eine Überlegung.

 

Heilungen am Sabbat?

Der Abschnitt steht inmitten des lukanischen Reiseberichts, in dem nur wenige Wunder berichtet werden2. Im Lukasevangelium ist von insgesamt fünf Heilungen am Sabbat3 die Rede. Dass eine Heilung eine Übertretung des Sabbatgebotes sei, wird bei den ersten beiden Heilungen in Lk. 4,31-39 von niemanden behauptet; in Lk. 6,6ff sind einige Pharisäer dagegen dieser Ansicht, ebenso spielt die Frage in Lk. 14,1ff eine Rolle: hier fragt Jesus die Pharisäer, ob ihrer Meinung nach eine Heilung am Sabbat erlaubt sei (diese schweigen), und er verwendet eine ähnliche Begründung für die Auffassung, dass Heilung erlaubt ist. Der Ausgang in Lk. 13,17 legt nahe, dass hier die Zuhörenden zur Überzeugung gekommen sind, die Halacha werde durch das Lösen der Fessel nicht verletzt!

 

Glimmende Überreste?

Ausgehend vom Wochenspruch möchte ich der Frage nachgehen, wozu unsere Gottesdienste da sind. Sind sie nur noch glimmende Überreste einer vergangenen Tradition? Haben sie noch etwas mit den Nöten und Fesseln der Feiernden zu tun? Haben Predigende heute eigentlich auch Möglichkeiten, die Menschen anzusprechen und mit Worten so zu berühren, dass Fesseln gelöst werden?

18 Jahre lang war die Frau in der Geschichte verkrümmt. Für Jesus ist klar, dass es der Satan war, der sie niederdrückte. Vielleicht war die Hoffnung noch nicht erloschen, dass es eines Tages mit dieser qualvollen Einschränkung vorbei sein würde. Sicher hätte Jesus seine Predigt halten können, und sie am Ausgang quasi unter vier Augen heilen. Denn auf eine Stunde kam es doch wohl nicht an, oder?

Offenbar war aber für ihn die Heilung dieser einen Frau wichtiger als ein ungestörter Gottesdienstablauf. Ja, womöglich störte das Vorhandensein der Verkrümmung die Predigt sogar mehr als die Irritation des Synagogenvorstehers. Dabei habe ich Mitgefühl mit diesem. Er fühlt sich (wie meine Kirchenälteste) verantwortlich für den Gottesdienst. Ohne ihn hätte der Gottesdienst nicht stattfinden können. Daher verdient er nicht, dass wir ihn runtermachen. Dass er unglücklich, ja bizarr reagiert, geschenkt: Er blafft die Gemeinde an, meint aber eigentlich Jesus.

 

Auflodernde Hoffnung

Die Kirchenälteste und ich haben niemanden zum Anblaffen. Ich packe die Gitarre ein. Wird beim nächsten Mal wieder keiner kommen? Vielleicht ist es aber doch nötig, den Docht am Glimmen zu erhalten. Damit die Hoffnung auflodern kann, Fesseln fallen und wir am Feiertag Gott aus frohem Herzen loben!

Vergessen wir aber bitte die Menschen nicht, die z.B. durch fortschreitende Lähmungserkrankungen wie MS oder ALS in ihrer Beweglichkeit chronisch beeinträchtigt sind und sich nach einer Befreiung von dieser Fessel sehr sehnen. Möglicherweise sind sie oder deren An- und Zugehörige unter den Predigthörenden. Ihr Leiden sollte jedenfalls nicht übersehen werden! Denn ihr Wohl ist wichtiger als ein harmonischer Gottesdienst.

 

Lieder

EG 606 (Hessen-Nassau/Kurhessen-Waldeck) „Dass ich springen darf und mich freuen“ (DHuT 341)

EG 66, 2+3 „Jesus ist kommen, nun springen die Bande“

 

Anmerkungen

1 Das Neue Testament Jüdisch erklärt, 141

2 Reinhard Feldmeier (https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500057)

3 Das Neue Testament Jüdisch erklärt, 130

 

Dankmar Pahlings